Winterberg. Den wohl schlimmsten Moment in ihrem Leben wird die Ukrainerin Oksana Olefir nie vergessen – auch wenn sie jetzt in Winterberg in Sicherheit ist.

Der Blick von der Erlebnisbrücke hinunter nach Winterberg ist atemberaubend und schön. Die Ukrainerin Oksana Olefir lächelt, wenn sie von einem ihrer ersten Ausflüge in dem Wintersportort berichtet. Die Luft, das Wetter, die Aussicht. So friedlich sei es gewesen, den Skifahrern bei der Abfahrt zuzuschauen. Für eine Stunde sei sie abgelenkt gewesen. Abgelenkt von einer ihrer dunkelsten Stunden und der Sorge um ihre Familie und ihr Land.

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Trotzdem wird sie den wohl schlimmsten Moment in ihrem Leben wohl niemals vergessen. Hier im Blackwater Irish Pub in Winterberg erscheint das alles so surreal. Der Pub ist in grün und orange geschmückt. Heute ist der irische Nationfeiertag „St. Patricks Day“. Eigentlich ein Tag zum Feiern.

Rauch und Flammen, die durch eine Bombardierung verursacht wurden, steigen über der Hauptstadt Kiev auf. Auch Olefirs Heimatstadt wurde schon bombardiert. Dabei sei eine Schule zerstört worden, sagt sie.
Rauch und Flammen, die durch eine Bombardierung verursacht wurden, steigen über der Hauptstadt Kiev auf. Auch Olefirs Heimatstadt wurde schon bombardiert. Dabei sei eine Schule zerstört worden, sagt sie. © dpa

„Ein Unglück kommt selten allein“

Doch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist allgegenwärtig. Auf allen Bildschirm flimmern die Kriegsbilder eines britischen Nachrichtensenders. Olefir denkt jede Minute an ihren Sohn und an das, was sie zurücklassen musste. Etwas, das sie hofft, bald wieder sehen zu können. Doch der Krieg, der in der Nacht auf den 24. März startetet, hat das Leben der Ukrainerin komplett verändert. Ruhig und gefasst berichtet sie von jenem Augenblick, als ihre Welt aus den Fugen geriet. Ihre Freundin, die Winterbergerin Lidiya Shemotyuk, übersetzt.

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Olefir stand in jener verhängnisvollen Nacht vor dem Grenzübergang von Polen zurück in ihr Land. Schon der Anlass, überhaupt in das Nachbarland zu reisen, sei sehr tragisch gewesen, berichtet sie. Denn ihr Bruder, der in Polen lebt, musste eines seiner kleinen Kinder zu Grabe tragen - ein Unglück. Sie sei zu dessen Beerdigung gereist. Es gebe ein ukrainisches Sprichwort, das könne man sinngemäß so übersetzen: „Ein Unglück kommt selten allein“, sagt Olefir. Nach der herzzerreißenden Zeremonie habe sie vorgehabt, mit dem Bus wieder in die Heimat zu reisen. Die Autoschlange vor dem Grenzposten habe sie nicht überrascht, sagt sie. Das sei immer normal gewesen.

Lidiya Shemotyuk und Oksana Olefir können auf der Erlebnisbrücke in Winterberg die schrecklichen Kriegserlebnisse für ein paar Momente vergessen.
Lidiya Shemotyuk und Oksana Olefir können auf der Erlebnisbrücke in Winterberg die schrecklichen Kriegserlebnisse für ein paar Momente vergessen. © privat

„Wir fahren nicht weiter. Es ist Krieg!“

Doch als der Busfahrer das Wort an die Mitfahrenden richtete, sei es ihr vorgekommen, als man ihr den Boden unter den Fußen weggerissen. „Wir fahren nicht weiter. Es ist Krieg“, habe er gesagt. „Ich habe es nicht glauben können. Ich habe geweint“, übersetzt Shemotyuk und beide Frauen haben Tränen in den Augen. Zu Fuß habe sie sich wieder zurück zu ihrem Bruder begeben. Auch noch in der Ungewissheit wegen ihrer Familie. Erst als sie wieder Handyempfang gehabt habe, seien extrem viele Nachrichten über die Messengerdienste bei ihr eingetroffen. „Bleibe da, wo du bist! Reise auf gar keinen Fall zurück“.

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Eigentlich lebt die 50-jährige Olefir in der Großstadt Zhytomyr nördlich der Hauptstadt Kiew. Dort arbeitet sie als stellvertretende Direktorin einer großen öffentlichen Einrichtung. Ihr 31-jähriger Sohn Nikita war erst an Silvester vergangenen Jahres gemeinsam mit seiner Freundin in ein Haus etwas außerhalb der Stadt gezogen. Ihre 69-jährige Mutter lebt in einer Wohnung. Doch die Schatten des Kriegs lagen schon lange über dem Familienidyll, berichtet Olefir. Die Situation sei schon sehr angespannt gewesen. Es habe Hamsterkäufe gegeben, abwechselnd mit Phasen der Entspannung, berichtet sie.

Oksanas Nikolai (rechts) unterstützt die ukrainischen Truppen.
Oksanas Nikolai (rechts) unterstützt die ukrainischen Truppen. © privat

Mutter weigert sich Schutz vor dem Bombenhagel zu suchen

Am 11. Februar sei sie selbst Zuschauer bei der ukrainischen TV-Talk-Show „Svoboda slova (Freies Wort)“ gewesen. Stolz zeigt Olefir Bilder mit sich und der ehemaligen ukrainischen Präsidentin Julia Tymoshenko und dem ehemaligen Ministerpräsidenten Vladimir Grojsman. An dem Abend habe man dort über einen möglichen Angriff auf die Ukraine diskutiert. Eine Telefonumfrage bei den Zuschauern habe ergeben: „80 Prozent waren überzeugt, dass Putin angreifen wird“, sagt Olefir. Bei ihr zu Hause und bei ihrer Mutter hätten schon seit einiger Zeit zwei so genannte Panikkoffer gestanden. In einem seien die wichtigsten Papiere, Geld und Schmuck gewesen, in dem anderen Verbandszeug, Wasser und etwas zum Knabbern.

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Als Putin angriff und die Sirenen in Zhytomyr heulten, habe sich ihre Mutter aus Trotz geweigert, in den Keller zu gehen, erinnert sich Olefir. Per Handy habe sie verzweifelt versucht, ihre Mutter dazu zu bewegen - bis diese endlich einwilligte. Mittlerweile sei ihre Mutter, nach Polen zu ihrem Bruder geflohen. Auch die Freundin ihres Sohnes und deren Mutter hätten sich nach Finnland in Sicherheit gebracht.

Oksana Olefir war ein paar Wochen vor dem Krieg als Zuschauer bei einer TV Show. Dort traf sie die ehemalige ukrainische Präsidentin Julia Tymoshenko (rechts).
Oksana Olefir war ein paar Wochen vor dem Krieg als Zuschauer bei einer TV Show. Dort traf sie die ehemalige ukrainische Präsidentin Julia Tymoshenko (rechts). © privat

Unterstützung für die Truppen

Ihr Nikolai allerdings bleibe im Kriegsgebiet und berichte ihre mit unzähligen Fotos und Videos von der Lage vor Ort. Zwar seien bisher noch keine Panzer oder Bodentruppen gesichtet worden, doch vereinzelt gebe es Raketenbeschuss und Bombenangriffe auf ihre Stadt. Bisher würden noch viele Raketen von der eigenen Luftabwehr abgefangen. Trotzdem sei schon ein ziviles Ziel von einer russischen Bombe zerstört worden: eine Schule. Olefir muss schlucken, wenn sie an ihren Sohn denkt. Dieser habe sich direkt am ersten Tag der Invasion bereit erklärt, die Truppen zu unterstützen und Botengänge zu erledigen oder die Soldaten mit Nahrung und Medikamenten zu unterstützen. „Ich habe große Angst um ihn“, sagt sie. Sie hoffe dass er nicht „übereifrig“ werde, wenn die Wut auf die Invasoren zu groß werde. Jeden Tag warte sie auf seine Nachrichten und Anrufe. Sie hoffe ihn bald in der Ukraine wieder zu sehen.

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Sie selbst sei von ihrer Freundin Lidiya Shemotyuk überzeugt worden, nach Deutschland zu kommen. Shemotyuk schaut Olefir an und lächelt. „Sie hatte die Bedingung, dass sie hier arbeiten kann. Sie wollte niemandem zur Last fallen“, sagt Shemotyuk. Als Pub-Besitzer Dan Corcoran von der Situation erfahren habe, habe er sich sofort bereit erklärt, ihr einen Job anzubieten. Olefir schießen erneut die Tränen ins Gesicht. Mit bebender Stimme drückt sie aus, was sie für Corcoran, Winterberg und die Deutschen empfindet: „Ich bin so unglaublich dankbar“.