Winterberg/Züschen. Natascha und ihre Kinder sind auf der Flucht vor dem Krieg im Sauerland angekommen. Eine Helferin aus Winterberg berichtet über unfassbares Leid.

Mit einem Filzstift hat Natascha die Unterarme ihrer beiden Kinder Leo und Amyna beschriftet. Neben dem Namen steht die Blutgruppe und der Kontakt zu Verwandten in Kiew. Falls sie sich aus den Augen verlieren sollten, falls die Mutter von einer Bombe oder einer Kugel getroffen werden sollte. Das war vor wenigen Tagen in der Ukraine. Jetzt sind die Drei wohlbehalten in Deutschland, in Züschen.

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Ihr Weg von Kiew bis ins Sauerland ist eine von vielen menschlichen Geschichten in diesen Tagen. Eine engagierte Frau aus Litauen, die sich mit viel Empathie um Flüchtlinge kümmert, hat sie sich angehört. Ihren Namen möchte diese 56-jährige Frau nicht nennen. Zu sehr hat sie all das aufgewühlt, was Natascha ihr erzählt hat. Die Wege der beiden haben sich in Züschen gekreuzt. Dort haben sich sie umarmt und miteinander geweint. Die Sauerländerin aus Litauen ist schockiert. Sie kann das Leid, das Elend und die Angst nicht mehr länger mit ansehen. Am liebsten möchte sie ihre Sorgen, ihren Kummer laut in diese Welt schreien und „Frieden!“ rufen. Sie kennt die Bilder aus dem Fernsehen, doch für sie hat der Schrecken des Krieges ein Gesicht bekommen. Eigentlich drei: das von Natascha, Leo und Amyna.

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Seit 17 Jahren lebt die Frau in Deutschland. In ihrer Heimat hat sie ein Sozialstudium gemacht, in Deutschland eine Ausbildung zur examinierten Altenpflegerin. Bei der Westfalenpost hat sie sich gemeldet, weil sie ihre Erlebnisse und ihre Emotionen teilen möchte Es geht nicht um sie. Sie möchte, dass die Menschen wissen, was gerade mitten in Europa passiert. Und sie ist ein Beispiel dafür, wie tapfer auch Helferinnen und Helfer hier in Deutschland zurzeit sein müssen, um diese schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.

Eine Frau und ein Kind, die aus der Ukraine geflohen sind, steigen am Bahnhof in Polen, aus einem Kleinbus.
Eine Frau und ein Kind, die aus der Ukraine geflohen sind, steigen am Bahnhof in Polen, aus einem Kleinbus. © dpa | Daniel Cole

Die Frau stammt aus Litauen; ihr Heimatland grenzt unmittelbar an Weißrussland: Ihre Mutter, ihre Tochter, die Enkel und der Schwiegersohn – sie alle sitzen auf gepackten Koffern. Persönliche Papiere, das Nötigste, Jod-Tabletten. Sie haben Angst, dass Putin auch dort einmarschieren und Bomben werfen könnte. „Das ganze Baltikum ist in großer Sorge. 1940 wurde mein Land von Russland anektiert. 50 Jahre lang haben wir unter dieser korrupten Regierung gelitten, die litauische Intelligenz ist in Zwangslagern gelandet. Wir wurden bis 1990 unterdrückt; so wird es der Ukraine auch ergehen und vielleicht auch Litauen und dem ganzen Baltikum.“

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Eintopf mit Liebe gekocht

Mitten in diese Sorgen platzt der Anruf einer Nachbarin in Winterberg: „Du stammst doch aus der Gegend. Meine Tochter und ihr Lebensgefährte erwarten in ihrem Hotel einen ganzen Bus voller Flüchtlinge. Was können wir denen heute Abend kochen? Würdest du helfen?“ Es wird später Eintopf geben. Hauptsache heiß, nahrhaft, mit Liebe gekocht.

Flüchtlingswelle

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vor rund zwei Wochen sind nach Angaben der Bundespolizei mindestens rund 147.000 Menschen von dort nach Deutschland gekommen.

Erfasst werden allerdings nur diejenigen Flüchtlinge, die von der Bundespolizei festgestellt werden. Da es aber im Regelfall keine festen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen gibt und Ukrainer erst einmal ohne Visum einreisen dürfen, könnte die Zahl der nach Deutschland eingereisten Kriegsflüchtlinge tatsächlich bereits deutlich höher sein.

Das Hotel „Haus am Stein“ hat eine ungewöhnliche private Initiative ergriffen. „Wir hatten über eine Reiseleiterin einen direkten Kontakt nach Lemberg. Wir haben Platz hier bei uns im Haus, wir haben zwei eigene Busse und eigene Fahrer – inklusive meiner Person. Wir haben in Coronazeiten viel Unterstützung erfahren. Jetzt war es an der Zeit, etwas zurückzugeben“, sagt Hotelbetreiber Michael Kappen. Der Doppeldecker-Bus fährt an die polnische Grenze und bringt 50 Menschen in Sicherheit. „Die Hilfsbereitschaft im Hotel und im Dorf ist grenzenlos. Dafür muss ich einfach mal Danke sagen. Trotzdem geht es auch nur mit meiner Familie und mit meiner Lebensgefährtin Nadine im Rücken“, so Kappen. Was dennoch fehlt? Übersetzer/innen!

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Jemand, wie die Frau aus Litauen. Sie bleibt an jenem Abend in Züschen und hilft. Sie hat eine wichtige Aufgabe, denn sie spricht Litauisch und Russisch. Auch die Ukrainer sind mit ihrer eigenen und der russischen Sprache groß geworden. Es ist die Sprache des Aggressors. Englisch ist schwierig. „Ich war völlig nervös, was ich den Menschen sagen sollte.“ In der Nacht kommt der Bus in Züschen an. Voll mit übermüdeten, aber dankbaren Gesichtern, deren Augen Schreckliches gesehen haben. Augen, die zu müde zum Weinen sind. Am liebsten würde die 56-Jährige sie alle in die Arme schließen, ihr Herz schlägt vor Aufregung bis zum Hals: „Clava Ukraina“, sagt sie mit zitternder Stimme. Und ein „Geroem Slava!“, hallt ihr entgegen. „Ruhm und Ehre der Ukraine!“ „Ehre ihren Helden!“

Eine besondere Verbindung

Zwischen Natascha und der Helferin besteht sofort eine besondere Verbindung: Noch in der Nacht erzählt die junge Mutter vom Krieg. Dass sie einen Tag nach dem ersten Angriff der Russen nachts um 4.20 Uhr mit ihren beiden Kindern in einen Schulbunker musste, dass sie drei Tage und Nächte auf Beton gelegen haben, dass um sie herum die Bomben einschlugen. Dass die Angriffe immer nachts erfolgen, um ihnen den Schlaf zu rauben, sie mürbe zu machen. Sie berichtet, dass ihre Kinder Fieber bekommen haben. Der Junge hat eine entzündliche Darmkrankheit, er braucht spezielle und warme Nahrung. Das Mädchen ist herzkrank. Der Vater, ein Hüne von zwei Metern, packt sich seine Frau und die Kinder, um sie durch Kugelhagel in ein Gartenhaus am Rande der Stadt zu fahren. Autos anderer Flüchtlinge werden demnach gestoppt, Menschen aus den Wagen gezerrt und wie Papp-Soldaten auf offener Straße erschossen. Umdrehen. In die andere Richtung fahren. Zum Bahnhof. Der ist voller Menschen. Wie ein Ameisenhaufen. Die Züge sind voll, die Menschen schieben von hinten, noch mehr Leute ins Abteil. Sie liegen in den Gepäcknetzen. Noch mehr rein.

Zwölfeinhalb Stunden ohne Essen und Trinken im Zug

Zwölfeinhalb Stunden braucht der Zug für die 550 Kilometer von Kiew nach Lwnow. Kein Essen, nichts zu trinken. Aussteigen, sich einer Kontaktperson anvertrauen, irgendwo in der Fremde schlafen, Angst, Sorge, dann der Weg zu den Bussen: einer fährt nach Polen, einer nach Züschen. Es gibt schon im Bus warmes Essen und menschliche Wärme.

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„Mama – haben wir noch Krieg? Mama, sind wir hier sicher?“ Weder Natascha noch ihre Kinder können nachts durchschlafen. Ihr Sohn und ihre Tochter, alle Kinder der Ukraine werden die Bilder nie vergessen. „Wir fühlen uns wie Zombies, völlig leer. Man kann es sich nicht vorstellen. Auf einmal verlierst Du alles, stehst ohne alles da.“ Ihr Mann bleibt zurück. Er will kämpfen. Jetzt können sie nur noch telefonieren. Jeden Tag: „Es geht mir gut, wir sind in Sicherheit. Pass auf Dich auf! Ich liebe Dich.“

Die 56-jährige Helferin ist eine mitfühlende und sensible Frau. Sie hat viel vom Krieg gehört, viel darüber gelesen. Aber jetzt, wo der Krieg so nahe ist und ein Gesicht bekommen hat, versteht sie die Welt nicht mehr. Natascha und ihre Kinder sind für sie Familie geworden: „Ich bin so dankbar, dass die Menschen hier mit offenen Armen aufgenommen werden. Was das Team vom Haus am Stein und die vielen Helferinnen und Helfer aus Züschen leisten, ist unglaublich, Danke, Danke, Danke!“