Hallenberg/Kiew. Sofia Müller wohnt in Hallenberg. Ihre Familie lebt in Kiew. Sie erzählt offen über das Leid ihrer Familie in der Ukraine und über ihre Gefühle.

„Es spielen sich menschliche Dramen ab, das kann sich hier keiner vorstellen.“ Sofia Müller sitzt am Tisch in ihrem gemütlichen Fachwerkhaus in der Hallenberer Altstadt, hat ihr Handy in der Hand und zeigt Bilder, wie man sie derzeit von allen großen Nachrichtensendern kennt: Qualmende Häuser, zerbombte Brücken und Straßen, Raketen im Nachthimmel, brennende Panzer, davor tote russische Soldaten. Diese Bilder stammen jedoch nicht aus den Nachrichten, sondern wurden selbst aufgenommen von ihren Verwandten und Freunden in der Ukraine. Ihre ganze Familie befindet sich in Kiew. Sie ist selbst in der Ukraine in Tschernobyl geboren worden und wohnt seit 1995 in Hallenberg. Ihre Eltern stammen ursprünglich aus Wolgograd in Russland und sind 1975 in die Ukraine gezogen. Multikulti also – es war alles nie ein Problem, auch nicht nach dem Beginn der Konflikte vor acht Jahren. Bis Wladimir Putin am Donnerstag in der Ukraine einmarschierte.

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In einem Wohnblock so viele Menschen wie in Hallenberg

„In Kiew gibt es ganz andere Größenordnungen als im Sauerland. In einem Wohnblock wohnen dort so viele Menschen wie in ganz Hallenberg“, beschreibt Sofia Müller das Leben in der ukrainischen Hauptstadt. Die Eltern und ihre beiden Schwestern wohnen auf der linken Seite des Flusses Dnepr, rechts befinden sich die Regierungsviertel. Die jüngere Schwester Dascha war vor anderthalb Wochen noch zu Besuch in Hallenberg. Doch dann flog sie zurück nach Kiew – nichtsahnend, was dort auf sie zukommen sollte.

Dascha und Sofia im Februar 2022 in Winterberg. Die Schwester ist derzeit in Kiew.
Dascha und Sofia im Februar 2022 in Winterberg. Die Schwester ist derzeit in Kiew. © Privat | Privat

Situation der Familie in Kiew ist dramatisch

Das 16-stöckige Hochhaus, in dem die Eltern in Kiew leben, hat wie viele Gebäude einen Luftschutzbunker. Doch der Vater hat vier Herzoperationen hinter sich und ein kaputtes Knie. Der 75-Jährige kann die Wohnung im neunten Stock nicht verlassen, denn bei Bombenalarm läuft der Lift nicht. Aus dem Fenster ist ein brennendes Heizkraftwerk zu sehen, das zwischen Hochhäusern steht und am Freitag beschossen wurde. Dabei gab es einen Schlag, dass das ganze große Hochhaus bebte und die Familie zitternd vor Angst flach unter den Betten lag. Seit drei Nächten haben alle kaum schlafen können – und wenn, dann nur in der Nähe von tragenden Betonwänden.

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Der Bruder von Sofias Schwager versteckt sich zur Zeit mit seiner Familie. Seine Frau ist an Brustkrebs erkrankt, steckt mitten in einer Chemotherapie und hat deshalb kürzlich das ungeborene dritte Kind verloren. Die anderen beiden Kinder sind im Grundschul- und Kindergartenalter. Eigentlich müsste der Familienvater in den Krieg ziehen. Doch was soll dann aus Frau und Kindern werden?

Solidarität untereinander in Kiew ist riesengroß

Die ganze Familie will dennoch bleiben. Eine Flucht wäre auch nicht mehr möglich, Sprit gibt es nicht mehr, die meisten Straßen Richtung Westen sind zerschossen. Die Brücken über den Dnepr sind gesperrt und wahrscheinlich vermint, damit sie bei einem Einmarsch der Russen in die Stadt gesprengt werden können, so vermuten die Kiewer.

Menschen verstecken sich mit Familien und Haustieren in den U-Bahnstationen.
Menschen verstecken sich mit Familien und Haustieren in den U-Bahnstationen. © Privat | Privat

Am Montag konnten sie zum ersten Mal nach der Sperrstunde die Wohnungen wieder kurz verlassen. Die Solidarität untereinander ist riesengroß, hat Dascha berichtet. Die Menschen haben erst einmal bei allen Nachbarn an den Türen geklopft, um zu sehen, wer noch da ist. Jetzt teilen sie miteinander, was sie haben, und kochen gemeinsam in provisorischen Feldküchen. Bekannte der Eltern sind geflüchtet und haben vorher ihren Wohnungsschlüssel vorbei gebracht mit der Bitte, sich alles zu nehmen, was gebraucht wird. Dascha war am Montag mit dem Rad unterwegs und hat Tierfutter verteilt, das sie ergattern konnte. Über den Messengerdienst „Viber“ haben sie ähnlich wie bei WhatsApp Gruppen in ihren Wohnvierteln gegründet, um sich auszutauschen und gegenseitig zu helfen. Seit ein paar Tagen ist die russische Sprache darin tabu, vorher waren solche Dinge kein Thema. Sofia zeigt Fotos, auf denen Menschen dichtgedrängt mit ihren Kindern, Hunden, Katzen und teilweise sogar Hamsterkäfigen in den Metrostationen sitzen, die vor Bombeneinschlägen sicher sein sollen. Die hygienischen Verhältnisse kann man nur erahnen. In Kiew befindet sich die mit über 105 Metern tiefste U-Bahnstation der Welt, dort war Sofia noch im vergangenen Sommer. Die Infrastruktur im ganzen Land droht zusammenzubrechen, weil viele Ukrainer ihre Heimat fluchtartig verlassen haben oder festsitzen.

Krieg? Länder sind durch ihre Geschichte verbrüdert

Geld hat die Familie noch, aber es gibt kaum etwas zu kaufen. Die Regale in den Supermärkten sind größtenteils leer gefegt. Vor Banken, Apotheken, Tankstellen – überall stehen lange Schlangen. „Meine Eltern stammen zum Glück noch aus der Generation, die viel selber eingekocht hat, deshalb ist erstmal noch Essen da“, ist Sofia Müller zumindest etwas beruhigt.

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Das Zusammenleben von Ukrainern und Russen hat sie bisher immer als völlig unproblematisch erlebt: Ihre Muttersprache ist russisch, ukrainisch die Zweitsprache, außerdem spricht sie fließend deutsch. Ihr siebenjähriger Sohn kann ebenfalls schon etwas russisch sprechen – weil er damit bisher bei Urlauben in der Ukraine überall klar kam: „Unsere Länder sind durch ihre Geschichte verbrüdert. Der jetzige Hass ist künstlich durch Manipulation durch Putin geschaffen“, sagt Sofia. Als ihr Junge geboren wurde, hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und die ukrainische abgegeben, auch die ihres Sohnes: „Er sollte niemals für die Ukraine in einem Krieg kämpfen müssen - auch wenn da alles noch ganz weit weg schien.“

Situation in der Ukraine: Leere Supermarktregale.
Situation in der Ukraine: Leere Supermarktregale. © Privat | Privat

Tagsüber funktioniert sie irgendwie, versucht ihre Angst an die Seite zu schieben. Abends, wenn der Kleine im Bett ist, telefoniert sie mit den Eltern und den Schwestern. Wie geht es ihr selbst im Moment? „Etwas besser als in den ersten Tagen, weil meine Familie alles erstaunlich ruhig und gelassen trägt. Aber man darf nicht darüber nachdenken, was noch Furchtbares kommen könnte. Putin ist alles zuzutrauen.“

In Tschernobyl geboren und aufgewachsen

Sofia Müller ist in Tschernobyl geboren und aufgewachsen und musste als Achtjährige nach der Nuklearkatastrophe innerhalb von drei Stunden ihr Zuhause verlassen. Ihre Eltern und ihr Opa waren in dem Kernkraftwerk angestellt. Der Opa war zum Zeitpunkt des Unglücks in der Nacht vom 26. April 1986 sogar im Dienst, konnte sich aber in Sicherheit bringen. Sofia Müller erinnert sich, dass am Folgetag Jodtabletten in der Schule verteilt wurden. Zwei Tage später hieß es in einer Radiodurchsage, dass die Bewohner rund um das Kernkraftwerk ihre Papiere sowie Sachen für drei Tage einpacken und mit Bussen abgeholt würden. Danach hat Sofia Müller ihre Geburtsstadt nie wieder gesehen. Durch die Programme „Kinder aus Tschernobyl“ kam sie in den 90er Jahren zur Erholung nach Liesen, zog einige Jahre später ins Sauerland und ist in Hallenberg verheiratet.