Brilon. Jetzt ist die Jahreszeit, in der dieser Bruchstein-Torso an der B480 bei Brilon besonders ins Auge fällt. Wer weiß, um was es sich handelt?

Jetzt geben die blätterfreien Bäume den Blick auf das verfallene Bauwerk, modisch „Rotten Place“, kurz vor Brilon wieder frei: An der B480/Möhnestraße, in Höhe des Tierheims, fällt in der Böschung ein massiges Portal aus Bruchsteinen ins Auge. So mancher Autofahrer wird sich schon die Frage gestellt haben: Wohin mag dieses Tor wohl führen? Die ernüchternde Antwort: nicht besonders weit. Denn was aussieht wie ein Stollenmund, ist lediglich die Kammer eines ehemaligen Kalkbrennofens.

Blick in den Steinbruch am Flötsberg bei Wülfte: Am 19. April 1956 fand die letzte Schicht statt. Der Turm in der Mittel ist der damals neue Brennofen, daneben der Brecher und die Mühle. Der alte Brennofen, dessen Reste von der Möhnestraße aus zu sehen sind, befindet sich am rechten Bildrand am oberen Ende der Stützmauer. Die Böschung ist der sog. Dreckdamm. Links die damalige Werkleiterwohnung
Blick in den Steinbruch am Flötsberg bei Wülfte: Am 19. April 1956 fand die letzte Schicht statt. Der Turm in der Mittel ist der damals neue Brennofen, daneben der Brecher und die Mühle. Der alte Brennofen, dessen Reste von der Möhnestraße aus zu sehen sind, befindet sich am rechten Bildrand am oberen Ende der Stützmauer. Die Böschung ist der sog. Dreckdamm. Links die damalige Werkleiterwohnung © Unbekannt | Dorfarchiv Wülfte

Bis wann dieser Ofen in Betrieb war, kann Heidrun Gördeler nicht sagen. Dabei ist sie mit dem Kalksteinbruch am Flotsberg groß geworden. Ihr 1960 verstorbener Vater, Josef Schmidt-Diemel – nach dem Krieg übrigens für einige Monate ernanntes Mitglied des NRW-Landtags und von 1947 bis 1950 Vorsitzender der CDU im damaligen Kreis Brilon – leitete lange den Steinbruch. Die Familie lebte damals auch unmittelbar neben dem Werkslände an der Straße nach Wülfte.

Tochter des Werkleiters erinnert sich

Den alten Brennofen hat auch Heidrun Gördeler nur noch als Torso in Erinnerung. Wohl aber weiß sie noch, dass es damals entlang der langen Bruchsteinrampe, dereren letztes Stück heute ebenfalls noch erhalten ist, ein Stichgleis gegeben hat, das einst zum Verladen auf die Bahn gedient hatte. Und sie weiß auch noch, wie der Hang entstanden ist, in dem der alte Ofen teilweise versunken ist: „Das war der Dreckdamm.“ Dort wurde das nicht verwertbare Material hin gekippt.

Vom Stein zur Deponie

Etwa ab Mitte der 60er Jahre wurde der Steinbruch als Bauschuttdeponie genutzt. 1985 wurde dort das Tierheim errichtet; treibende Kraft dabei war der frühere SPD-MdL Julius Drescher (1920-2015).Der Steinbruch am Tierheim wird ebenso wie der Steinbruch gegenüber heute von zwei Unternehmen als Boden- und Bauschuttdeponie betrieben.

Auch Ortsheimatpfleger Walter Ising hat sich mit der Geschichte des Kalkabbaus in Wülfte und der des Steinbruchs am Flotsberg befasst. Im Dorfarchiv sind für das Jahr 1851 „einige Schurflöcher“ am Flotsberg und am Quarzberg erwähnt. 1892 wurde an der Kapelle ein Kalkofen angelegt. Der Steinbruch selbst wurde erst 1921 erschlossen. Neben dem von der Möhnestraße aus sichtbaren Brennofen-Rest gibt es in der näheren Umgebung weitere historische Kalkbrennstätten. Und in Wiesen und Wäldern kann das geübte Auge etliche verborgene kleine und kleinste Kalksteinbrüche erkennen.

Alte Öfen drei lang auf Temperatur gebracht

In den historischen Öfen wurde der geschichtete Kalkstein mit Holz, Reisig oder Holzkohle drei Tage auf rund 1000 Grad gebracht. Walter Ising: „Der Verbrauch an Brennstoff war riesig, ganze Berghänge waren kahl geschlagen.“ Im 19. Jahrhundert wurde das Kalkbrennen durch die Entwicklung energiesparender Öfen verbessert. Zeitgenössische Aufzeichnungen über den Brennofen an der Möhnestraße kennt der Ortsheimatpfleger nicht.

In der blätterlosen Jahreszeit ist der “Rotten Place“ an der Möhnestraße gut zu erkennen.
In der blätterlosen Jahreszeit ist der “Rotten Place“ an der Möhnestraße gut zu erkennen. © Unbekannt | Jürgen Hendrichs

In der Chronik der Sauerländischen Kalkindustrie (SKI) Messinghausen, die 1996 aus Anlass der 100-jährigen Firmengeschichte verfasst wurde, ist die Funktionsweise eines 1895 beantragten vergleichbaren „Berliner Patentofens“ erläutert. Dabei sorgen mehrere seitlich angebrachte Brennkammern für die zum Kalkbrennen erforderliche Kerntemperatur von rund 1000 Grad. Schon drei Jahre später begann in Messinghausen mit dem Bau eines modernen, 54 Meter langen Ringofen die industrielle Kalkherstellung: Aus 18 Kammern ließen sich täglich „vier bis fünf Doppelwagen Fettkalk“ gewinnen. Heute gehört das Unternehmen zur Lhoist-Gruppe.

Auch an anderen Stellen im Raum Wülfte hat Ortsheimatpfleger Walter Ising Reste historischer Kalkbrennöfen dokumentiert.
Auch an anderen Stellen im Raum Wülfte hat Ortsheimatpfleger Walter Ising Reste historischer Kalkbrennöfen dokumentiert. © Unbekannt | Walter Ising

Von diesen Dimensionen war man am Flotsberg weit entfernt. Heidrun Gördeler kann sich noch an den auf der Luftaufnahme zu sehenden Brennturm erinnern. Mit Loren wurde der Kalkstein in die Höhe gezogen. Neben dem Brennofen befanden sich der Brecher und die Mühle, in denen die Steine zerkleinert wurden.

Lesen Sie auch:Corona-Spaziergänge - Wie die Polizei im HSK jetzt reagiert

Auch wenn am 19. April 1956 die letzte Schicht am Flotsberg gefahren wurde: Gerumst hat es dort weiterhin. Der Steinbruch gegenüber wurde noch länger betrieben. Walter Ising weiß noch, dass sein Vater, der die Milch aus Wülfte fuhr, manchmal auf der Möhnestraße durch die dort gelandeten Steine aufgehalten wurde. Und Werner Muckermann vom Osterhof kann sich an jene Zeit erinnern, in der sein Grundstück „schon mal eine Ladung abgekriegt“ hat.