Brilon/Bestwig. Justin Bathen wird mit Schädelbrüchen in einer Auffahrt gefunden. Er erinnert sich nicht, was passiert ist. Seine Familie sucht nach Antworten.

Die Ungewissheit quält sie. Nadine Bathen will herausfinden, was mit ihrem Sohn geschehen ist. Wie hat sich der 18-Jährige die schweren Kopfverletzungen zugezogen? Die Blutungen. Die heftigen Prellungen – und die zwei Schädelfrakturen. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades. Warum lag Justin Bathen blutend und ohne Bewusstsein in einer Einfahrt in Heringhausen, in einer Julinacht nach einer Party? Oliver Brock, Rechtsanwalt aus Brilon, will Familie Bathen helfen, diese Fragen zu beantworten. Denn: Zahlreiche Ungereimtheiten in dem Fall treiben ihn und Familie Bathen um. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

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Ab einem Punkt setzt seine Erinnerung aus

Justin Bathen wird in drei Wochen 19 Jahre alt. Er absolviert seine Ausbildung zum Kältemechatroniker. Letztes Jahr. Die Prüfungen stehen an, spätestens im August will er dafür lernen. Die Meisterschule beginnt Ende des Jahres. Am 31. Juli ist Justin Bathen auf eine Geburtstagsfeier eingeladen, in Heringhausen. Um 19 Uhr fährt er los, Heringhausen liegt nur wenige Minuten von seinem Wohnort in Ramsbeck entfernt. Dort lebt er in einer Wohnung in seinem Elternhaus. Justin Bathen feiert mit seinen Freunden. Trinkt Alkohol. Irgendwann gegen 23 Uhr kommt der Punkt, an dem seine Erinnerungen aussetzen.

Die Auffahrt in der Justin gefunden wurde liegt nur wenige Meter von der Baumschule Hesse entfernt in Heringhausen. 
Die Auffahrt in der Justin gefunden wurde liegt nur wenige Meter von der Baumschule Hesse entfernt in Heringhausen.  © WP | Jana Naima Schopper

Justin Bathen sitzt heute am Küchentisch mit seiner Mutter Nadine Bathen. Unter dem linken Auge eine grüne Prellung. Eine Narbe zieht sich von einem Ohr über den Schädel zum anderen Ohr. Die blonden Haare wachsen langsam schon nach. Vor Nadine Bathen liegt der Arztbericht. Darin steht: Schädelhirntrauma 3. Grades. Mittelgesichtsfrakturen. Prellungen am Beckenkamm. Hämatome. Sie scrollt durch Bilder auf ihrem Handy. Justin im Krankenbett, die Augen so geschwollen, dass er sie nicht öffnen kann. Wegen Blutungen im Hirn musste er operiert werden. Sieben Stunden. Schrauben und Platten halten jetzt in seinem Kopf alles zusammen. „Diese Ungewissheit ist das schlimmste“, sagt die Mutter. Die Familie weiß nicht, wie Justin sich so schwer verletzte.

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„Es ist ein ominöser Fall“

Sie schalten Oliver Brock ein, Rechtsanwalt aus Brilon. Er stellt eine Strafanzeige gegen Unbekannt, damit die Polizei die Ermittlungen aufnimmt. „Es ist ein ominöser Fall“, sagt er.

Nadine Bathen erzählt, was sie weiß. Gegen 23 Uhr muss ihr Sohn die Party verlassen haben. Er textet mit einer Freundin am Handy. Um 23.02 Uhr schreibt er ihr die letzte Nachricht. Dann folgt noch eine Nachricht, die vollkommen aus dem Kontext gerissen ist – gegen 23.15 Uhr. Das erzählt das Mädchen später. Dann reißt der Kontakt ab. Um 23.38 Uhr entdeckt eine Anwohnerin neben der Baumschule Hesse in Heringhausen einen scheinbar leblosen Körper in der Auffahrt. Sie wählt den Notruf. Was in diesen 23 Minuten geschehen ist, bleibt ein Rätsel.

Justins Verletzungen sind gravierend.
Justins Verletzungen sind gravierend. © WP | Nadine Bathen

Der Briloner Anwalt Oliver Brock sagt: „Die Partygäste wurden befragt. Auch das Mädchen, mit dem getextet wurde.“ Niemand habe etwas entdeckt. Auch Überwachungskameras fangen die Stelle nicht ein. „Seltsam ist, dass der Junge in einer Auffahrt gefunden wurde. Es gibt Schleifspuren vom Gehweg hinauf zum Auffindort. In der Kleidung wurden keine Grasflecken gefunden. Das schreit nach einem Unfall“, sagt Oliver Brock. Das vermuten auch die Ärzte im Krankenhaus, sagen Brock und die Familie des Jungen. Von einem Sturz, einer Schlägerei könnten die Verletzungen nicht kommen. Zu viele, zu heftig.

Ein unbekannter Notruf

„Es gab aber diesen einen Anruf“, sagt Nadine Bathen. Denn als die Anwohnerin den Notruf wählt, ist sie schon die zweite. Nur wenige Minuten zuvor hatte jemand angerufen und gemeldet, dass ein Verletzter in der Auffahrt zur Baumschule Hesse liege. Der Unbekannte. „Das stinkt doch zum Himmel!“, sagt Nicole Bathen. Sie fragt sich, wieso der Unbekannte weggefahren ist. Wieso er nicht bei ihrem Sohn geblieben ist.

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Die Polizei weiß mittlerweile, wer der Unbekannte ist. Holger Glaremin, Pressesprecher der Polizei, bestätigt das. „Wir haben alle Anrufer ermittelt und gesprochen.“ Mehr darf Glaremin zu den Anrufern nicht sagen. Die Ermittlungen sind in dem Fall erst drei Tage später in Gang gekommen. Erst dann sind die Beamten ins Krankenhaus gerufen worden. Jetzt liegt der Fall bei der Staatsanwaltschaft.

Am Telefon sind die Einsatzkräfte

Es ist 00.20 Uhr in dieser Julinacht, als die Familie Bathen angerufen wird. „Ich höre immer mein Handy, immer. Nur in dieser Nacht nicht. Mein Mann ist hinuntergegangen, hat das Telefon geholt. Da waren die Einsatzkräfte vom RTW dran.“ Sie fahren sofort nach Meschede ins Krankenhaus. Dort macht Nadine Bathens Kreislauf schlapp. Es ist ihr zuviel. Justin Bathen wird nach nur einer halben Stunde nach Arnsberg in die Intensivstation verlegt. Er braucht eine Operation, um die Hirnblutungen zu stoppen.

Hier wurde Justin in einer Auffahrt in Heringhausen gefunden.
Hier wurde Justin in einer Auffahrt in Heringhausen gefunden. © WP | Nadine Bathen

Drei Tage nach dem Unglück besuchen die Polizeibeamten das erste Mal die Klinik, um Justin zu sehen. Am 7. August operieren die Ärzte ihn. Nadine Bathen sitzt mit ihrem Mann Hans-Werner und dem jüngeren Sohn im Auto, auf dem Weg nach Arnsberg, als die Polizei sie anruft. Man gehe von einem Sturz aus. Der Junge sei alkoholisiert gewesen. „Der Polizeibeamte sagte, dass er viele solcher Fälle kennt. Die Verletzungen sind normal und er kennt sogar Menschen, die nach solchen Stürzen blind geworden sind.“ Nadine Bathen schüttelt mit dem Kopf. „Ich war auf dem Weg zu meinem Sohn, der operiert werden sollte. Ich habe einfach nur gesagt, dass ich jetzt auflege.“ Unfassbar, sagt Nadine Bathen heute.

Es gibt in diesem Fall zu viele Ungereimtheiten

Holger Glaremin bestätigt, dass die Ermittlungen in alle Richtungen laufen würden. Fahrerflucht? Absplitterungen, wie sie laut Glaremin normalerweise entstehen würden, wenn ein Mensch auf ein Auto prallt, habe man vor Ort nicht gefunden. Dann nur ein Sturz – wegen übermäßigen Alkoholkonsums? Für Anwalt Oliver Brock passt das nicht zusammen. „Wenn ein weicher Körper auf Metall aufschlägt, dann müssen nicht zwangsweise Absplitterungen geschehen. Vielleicht hat der Junge das Auto auch nur gestreift. Durch die Geschwindigkeit ist er schwer gestürzt. Es gibt in diesem Fall zu viele Ungereimtheiten.“ Nadine Bathen sagt: „Wir wissen, dass er getrunken hat. Das ist doch in diesem Alter bei Partys der Fall, das müssen wir nicht schönreden. Aber diese Verletzungen, die kommen nicht von einem normalen Sturz.“

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Justin ist jetzt seit einigen Wochen wieder daheim. Er hat viel geschlafen. Durfte kein Fernseh schauen, kein Handy daddeln. Sein Leben drückt den Pausenknopf. Die Ausbildung, die Prüfungen, die Meisterschule. Alles ruht. Bald beginnt die Reha, um zu testen, ob er Druck auf dem Kopf aushält. Um die Konzentrationsfähigkeit zu testen. Und die psychische Begleitung. Justin Bathen sagt: „Ich bin eigentlich froh, dass ich nichts mehr weiß. Ich will mich eigentlich nicht erinnern. Und gleichzeitig will ich einfach wissen, was passiert ist.“