Bad Arolsen/Marsberg. Was „gestohlene Erinnerungen“ sind. Und warum das größte Archiv über Opfer und Überlebende des Nationalsozialismus einen Preis bekommt.

Die „Arolsen Archives“ in der benachbarten nordhessischen Kur-Stadt beherbergen das größte Online-Archiv über Opfer und Überlebende des Nationalsozialismus. Über das Projekt „Every name counts“, an dem u.a. auch die Marsbergerin Marina Sauerland mitarbeitet, hat die Westfalenpost berichtet. Es geht darin um die Digitalisierung der Namen von NS-Opfern. Ein weiteres Projekt heißt „#StolenMemory“. Und das hat jetzt einen „Grimme-Online-Award“ in der Kategorie Wissen und Bildung erhalten.

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Erinnerungsstücke suchen Besitzer

In der Jury-Begründung heißt es: „#StolenMemory erzählt eindrücklich und nüchtern die Geschichte von KZ-Insassen/innen und die Geschichte von 2500 Erinnerungsstücken, die immer noch darauf warten, den Weg zu den Nachkommen ihrer ehemaligen Besitzer/innen zu finden. Die Website bietet in ästhetisch gelungenen Zugängen die Möglichkeit, in Vergangenheit und Gegenwart einzutauchen.“

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Die Freude über die Auszeichnung ist in Bad Arolsen groß: „Wir müssen es schaffen, die jüngeren Generationen mit Geschichten zu erreichen“, sagt Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives auf der facebook-Seite. „Wir sind unglaublich stolz, das gemeinsam mit der Agentur Goldener Westen geschafft zu haben.“

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2500 Stücke lagern in Bad Arolsen

Uhr und Schmuck, Ehering und Dokumente, Briefe und Fotos: In den Konzentrationslagern nahmen die Nationalsozialisten den Menschen ihre persönlichen Gegenstände ab. Die Arolsen Archives bewahren noch 2500 persönliche Besitzstücke ehemaliger KZ-Häftlinge bis zur Rückgabe an die Familien auf. Durch die 2016 gestartete Kampagne #StolenMemory konnten schon mehrere hundert Familien gefunden werden, oft mit Hilfe von Freiwilligen, die in verschiedenen Ländern recherchieren.

Auch als Ausstellung

Um die Biographien der Verfolgten, die Geschichten der Rückgaben und die Personen vorzustellen, deren Familien noch gesucht werden, haben die Arolsen Archives verschiedenen Ausstellungsformate entwickelt: Ob als Wanderausstellung im Überseecontainer, als Ready-to-Print-Ausstellung oder als Online-Ausstellung: #StolenMemory weckt Interesse beim Publikum und war schon in vielen europäischen Städten wie Paris, Krakau, Barcelona oder Venedig zu Gast.

Weitere Infos unter www.arolsen-archives.org

Die persönlichen Gegenstände - sogenannte Effekten - gehören NS-Verfolgten aus über 30 Ländern. Die meisten persönlichen Gegenstände kommen aus dem Konzentrationslager Neuengamme in Hamburg, einige auch aus dem KZ Dachau. Für die Familien sind die Gegenstände von unschätzbarem Wert. Sie machen die Erinnerung und das Andenken greifbar. Denn oft sind sie die letzte Spur zu den NS-Opfern. Wie und wo sie starben, ist nur selten bekannt. Aber auch für Angehörige von Überlebenden sind die Besitzstücke wichtig. Vor allem, wenn die Menschen nicht über ihre KZ-Erfahrung sprechen konnten oder wollten.

Freiwillige sind zur Hilfe eingeladen

Ziel von #StolenMemory ist die Rückgabe möglichst vieler dieser geraubten Erinnerungsstücke. Dazu laden die Arolsen Archives Freiwillige ein, sich an der Suche nach den Familien zu beteiligen. Durch Social Media und die Onlinestellung von Archivbeständen bieten sich heute bei der aktiven Suche viel mehr Möglichkeiten. Freiwillige aus vielen Ländern, darunter Polen, Niederlande, Neuseeland, Frankreich und Spanien unterstützen die Arolsen Archives – teilweise mit hilfreichen Tipps bis hin zu aufwändigen Suchen vor Ort. Auch die Medien berichten über die Kampagne und veröffentlichen Namen und Fotos. Das führt dazu, dass Familien sich melden. So konnten seit 2016 Erinnerungsstücke von mehr als 500 NS-Opfern zurückgegeben werden.

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Neue Nutzung des Netzes

Noch einmal zum Grimme-Preis: 28 aus über 1.400 eingegangenen Vorschlägen hatten es in die handverlesene Auswahl geschafft. Im zweiten Jahr der Pandemie konnte es kaum überraschen, „dass unter den (...) Einreichungen etliche Projekte und Beiträge waren, die sich mit Aspekten rund um Corona befassen,“ so die Nominierungskommission. Aber auch jenseits der Pandemie fand sich Relevantes – wie eben das Projekt aus Bad Arolsen: „#StolenMemory“ eröffnet uns eine weitere Facette zur Nutzung des Netzes.“ Das Projekt zeige, dass das Netz als Ort des Erinnerns dem Vergessen entgegenwirken könne. Das „Scrollytelling-Format“ verknüpfe sich mit einer wissenschaftlichen Datenbank, in der mit den Opfern verbundene Gegenstände im Detail erschlossen werden.