Marsberg/Bad Arolsen. Jeder kann mitmachen. Die New York Times hat darüber berichtet. Es geht um ein großes digitales Denkmal für die vielen Opfer des Nazi-Terrors.
Die New York Times hat über diese Idee aus Bad Arolsen berichtet. Die Tagesschau auch. Eine Woche lang wurden die Namen von Nazi-Opfern auf die Fassade der französischen Botschaft in Berlin projiziert. Meistens waren das akribisch ausgefüllte Personal-Karten über Häftlinge, die in den Konzentrationslagern umgebracht wurden. Allein sechs Millionen jüdische Menschen. Unvorstellbar. Daher gilt: „#everynamecounts – jeder Name zählt“. So heißt eben jene Kampagne der „Arolsen Archives“.
Weltweit größtes Archiv
Das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit größten Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus beschreitet neue Wege. Es will Menschen aller Generationen erreichen und zeigen, wohin Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus führen können. Marina Sauerland aus Marsberg arbeitet in der PR- und Fundraising-Abteilung de und betreut das Projekt mit.
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Eigentlich ist es eine Sisyphos-Arbeit: In Bad Arolsen lagern 30 Millionen Dokumente und Hinweise. Hinter ihnen verbergen sich die Schicksale von 17,5 Millionen Menschen. „Schon jetzt kann man von jedem Punkt der Welt in unserem Online-Archiv recherchieren und nachschauen, was zum Beispiel unter der Eingabe eines Personennamens zu finden ist. Es sind bereits sehr, sehr viele Dokumente einsehbar. Aber noch längst nicht alle. Und es fehlen vor allem die Verknüpfungen und Verschlagwortung. An der kompletten Erfassung arbeiten wir mit unserem Projekt ,Every name counts‘“, erklärt Marina Sauerland. Die 26-Jährige hat in Marsberg ihr Abitur gemacht, u.a. digitale Medienkommunikation studiert und kennt sich durch weitere Studien in der Literatur-, Kultur- und Medienlandschaft aus.
„Über soziale Netzwerke versuchen wir speziell auch für junge Leute einen zeitgemäßen Zugang zum letztlich best-dokumentierten Verbrechen der Welt zu finden. Das ist sprachlich nicht immer ganz einfach, gelingt uns aber in der Regel sehr gut“, sagt Sauerland. Immerhin haben die Archives einige tausend Follower bei facebook, Twitter und Instagram, wobei sich dort vor allem junge Leute zwischen 18 und 24 aufhalten. „Nach unseren Erfahrungen ist das sogar eine Altersgruppe, die sehr engagiert, aktivistisch und stark an dem Thema interessiert ist.“
Enkel-Generation recherchiert
Viele Jahre war der Holocaust im Geschichtsunterricht häufig mit einem kollektiven Schuldbewusstsein verbunden. Inzwischen ist die Enkel-Generation der Opfer und der Täter nachgewachsen, die Krieg und Verfolgung nicht am eigenen Leib erfahren musste - die sich aber mit großem Interesse auf die Suche nach ihren Vorfahren macht. Da ist vielleicht die Oma in den USA, die gegenüber ihren Enkelkindern nie darüber sprechen wollte, was ihr als Jüdin im Nazi-Deutschland widerfahren ist.
Archiv wird weltweit genutzt
Wer die Aktion „#everynamecounts“ unterstützen möchte, findet alle weiteren Informationen unter www.arolsen-archives.org. Schulen, die an dem Projekt mitwirken möchten, können sich per Mail enc@arolsen-archives.org oder telefonisch unter 05691 6290 melden.
Zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar hatten die Arolsen Archives eine Woche lang Namen und Dokumente auf die Außenwand der französischen Botschaft in Berlin projiziert. Die Kunstinstallation wurde im Livestream in die ganze Welt übertragen.
Die Einrichtung in Bad Arolsen baut aus ihren Sammlungen das weltweit größte Online-Archiv über Opfer und Überlebende des Nationalsozialismus. Das Online-Archiv ist 2020 mit dem European Heritage Award/Europa Nostra Award ausgezeichnet worden. Das ist Europas wichtigste Auszeichnung für den Erhalt des kulturellen Erbes.
Die Arolsen Archives sind ein internationales Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sie beinhaltet Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des nationalsozialistischen Terrorregimes und ist eine wichtige Wissensquelle für die heutige Gesellschaft.
Vergangenes Jahr ist die Zahl der Anfragen an die Arolsen Archives erneut um zehn Prozent gestiegen. 900.000 Menschen aus aller Welt haben 2020 das Online-Archiv genutzt.
Mit großer Wahrscheinlichkeit könnte der Enkel/die Enkelin bei den Arolsen Archives Dokumente über die Großmutter finden. Vielleicht eine Schiffsfahrkarte oder ein Papier, das ihre Passage vom Sauerland, nach Bremen über den großen Teich dokumentiert. Aber es könnte durchaus sein, dass all das, was derzeit über die Oma recherchierbar ist, noch längst nicht allen verfügbaren Schriftstücken entspricht.
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Handschriftliches in Formulare übertragen
Bei den Dokumenten, die in Bad Arolsen archiviert sind, handelt es sich mal um handschriftliche Meldebögen, mal um sogenannte Häftlings-Personal-Karten; es sind Fragebögen, Protokolle, Deportationspapiere. Das große Problem dabei: Nicht jedes Dokument ist in Druckbuchstaben oder mit einer Schreibmaschine abgefasst, manches ist nur in Handschrift vorhanden, manches unleserlich, manches in Sütterlin. „Es ist denkbar schwierig, Computerprogramme zu entwickeln, die fehlerfrei solche Dokumente erkennen, sie dann digital in die Datenbank der Arolsen Archives einspeisen und dadurch allgemein recherchierbar und zugänglich machen“, sagt Marina Sauerland. Hier setzt das Projekt „#everynamecounts“ an.
2020 als Pilot-Idee gestartet und inzwischen als Projekt etabliert, haben die Mitarbeiter/innen sich eine ehrgeizige Zielvorgabe gesetzt, an der sich bislang schon 17.000 registrierte Nutzer beteiligt haben. Niemand, der mitmacht, muss sich registrieren. Daher ist die tatsächliche Zahl der Every-Name-Counter vermutlich doppelt so hoch.
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Jeder, der das Projekt unterstützen und daran mitarbeiten will, gelangt über die Internetseite der Arolsen Archives auf eine Suchmaske. Auf der linken Seite erscheint das Original handschriftliche Dokument. Auf der rechten Seite wird der Teilnehmer gebeten, die Daten des Original-Papiers in ein Formular zu tippen. Mehrere Male kommt das Formular wieder in den Kreislauf, damit mindestens zwei weitere Personen dieselben Daten ausfüllen und bestätigen können. Was im ersten Moment wie eine stures Abtippen klingt, ist in Wirklichkeit eine spannende Beschäftigung mit Geschichte. Verbrechen und Unrecht nehmen Gestalt an, werden auf eine ganz neue Art spürbar, nachvollziehbar.
Gegen das Vergessen
Die Fachleute sprechen bei den Arbeitsschritten von Indizierung. Bislang haben sich viele Vereine, Stiftungen und Privatleute daran beteiligt und einen Beitrag gegen das Vergessen geleistet. Als besondere Zielgruppe haben die Arolsen Archives jetzt Schulen im Visier. „Es gibt auf der Internetseite bei uns viele Möglichkeiten, das Thema in den Unterricht einzubinden. Dazu gibt es diverse Downloads und Unterrichtsmodule. Schüler können möglicherweise auch bei sich vor Ort auf Spurensuche nach Opfern gehen und sie können natürlich auch beim Indizieren helfen“, sagt Marina Sauerland.
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Bei der unglaublichen Vielzahl der Opfer aus allen Altersschichten sei es nahezu vorprogrammiert, ein Dokument eines Gleichaltrigen in die Hände zu bekommen und anhand weiterer Recherchen nachzulesen, wie junge Leute damals aus ihrem Lebensumfeld gerissen wurden. Sauerland: „Für viele schließen sich daran automatisch aktuelle Fragen an, zum Beispiel wie man Diskriminierung und Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft entgegentreten und vorbeugen kann.“