Marsberg. Kieselrot aus Marsberg sorgte 1991 für einen Skandal in Deutschland. Der ehemalige Bürgermeister Reinhard Schandelle erinnert sich noch genau.

Heute liegt das ehemalige Haldengelände der Kupferhütte in Marsberg wie unschuldig in der Natur, die alles überdeckt. Die Glinde bildet eine natürliche Grenze von der Mühlenstraße bis in den Glindegrund. Das ehemalige Haldengelände am Fuße des Eresberges versprüht den Charme von Vergänglichkeit und Vergessenem.

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Die Eresburger Bogenschützen haben dort ihren Bogenparcour aufgebaut. Jetzt im Frühjahr geben die noch blattlosen Bäume einen Blick frei auf das Gelände, auf dem sich einst Berge von Schlacke aus dem Kupferbergbau auftürmten. Die Schlacke wurde als Kieselrot verarbeitet und auf Spiel- und Sportplätzen, Parkgehwegen und dergleichen nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch im Ausland verteilt. Marsberg brachte das vor 30 Jahren unrühmliche Bekanntheit ein, weil man befürchtete, dass hochtoxische Dioxine in der Kupferschlacke die Umwelt und die Menschen vergiften.

Keine Umweltkatastrophe in Marsberg

Wenn dem so gewesen wäre, sagt Alt-Bürgermeister Reinhard Schandelle heute rückblickend im Gespräch mit der WP, wäre es eine Umweltkatastrophe von nie dagewesenem Ausmaß gewesen.“ Die Bild-Zeitung hatte damals reißerisch von ersten vier Toten in Marsberg berichtet. Schandelle: „Tatsächlich aber gab es überhaupt keine Todesfälle, verursacht durch das Marsberger Kieselrot.“ Die Freizeit Revue berichtet, Marsberg sei eine einzige Giftküche. Der schleichende Tod lauere in den roten Bergen am Stadtrand.

Heute tummeln sich auf dem Abraumbergen wilde Tiere aus Pappe den Bogenparcours.
Heute tummeln sich auf dem Abraumbergen wilde Tiere aus Pappe den Bogenparcours. © Annette Dülme

Schandelle: „Irgendwann hat sich die ganze Sache verselbstständigt und war nicht mehr in den Griff zu kriegen.“ Er führt das auch auf das damals noch sehr gegenwertige Unglück im italienischen Seveso zurück. Dort kam es 1976 in einer chemischen Fabrik zu einer Explosion, bei der unbekannte Mengen des hochgiftigen Dioxins freigesetzt wurde. 1800 Hektar Land waren dort auf Jahre vergiftet. Eine Studie dazu belegt, dass bisher keine Todesopfer direkt auf das Unglück zurückgeführt werden, wohl aber eine Häufung einzelner seltener Krebsarten, die sich aber bei Mittelung aller Krebsarten nivelliert.

Für immer im Geschichtsbuch von Marsberg

„Das Jahr 1991 wird für immer mit den Begriffen Kieselrot und Dioxinin die lokale Geschichte eingehen“, schreibt der verstorbene Stadtchronist Johannes Bödger vor 30 Jahren in seinem Jahrbuch. Auf mehreren Seiten hat er den Kieselrotskandal chronologisch aufgearbeitet. Reinhard Schandelle war damals gerade ein Jahr im Amt. Mitte April 1991 kam die Schreckensnachricht aus Bremen. Untersuchungen von Kinderspielplätzen hatten bei einem aus Marsberg stammenden Bodenmaterial extrem hohe Dioxinwerte festgestellt. „Ich kann mich noch sehr gut erinnern“, sagt Reinhard Schandelle. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans Koschnik aus Bremen hat eine Schwester, die in Erlinghausen verheiratet ist. Koschnik warnte seinen Parteifreund Schandelle am Telefon vor. „Macht Euch auf etwas gefaßt“, hatte er gesagt.

Kam noch viel dicker

Der Berg mutet an wie ein Relikt aus der Kielrot-Zeit. Das Gestein ist durch die Feuchtigkeit oxidiert und hat sich rot verfärbt.
Der Berg mutet an wie ein Relikt aus der Kielrot-Zeit. Das Gestein ist durch die Feuchtigkeit oxidiert und hat sich rot verfärbt. © Annette Dülme

Es sollte noch viel dicker kommen. Giftschlackenfunde gab es in 220 deutschen Städten und Gemeinden. Krisenstäbe wurden gebildet. Der damalige Umweltminister Matthiesen kommt mit der im Ministerium gebildeten „Sondergruppe Marsberg“ in die Stadt an der Diemel. Hubschrauber kreisen im Auftrag der Hessischen Landesregierung über Marsberg und nehmen Luftmessungen vor. Spürpanzer der Bundeswehr suchen nach Dioxin. Überall in Deutschland werden Spiel- und Sportplätze gesperrt.

„Die Kupferschlacke kann doch gar nicht gefährlich sein, hat mir damals der verstorbene Anton Bieker gesagt“, erinnert sich Reinhard Schandelle. Anton Bieker hatte zeitlebens auf der Halde gearbeitet. Kinder hatten dort gespielt. Ohne Schutz, ohne alles. Und waren kerngesund geblieben.

Untersuchungsergebnisse

In einer Bürgerversammlung im Mai 1991 legten Fachleute ihre ersten Untersuchungsergebnisse vor. Im Diemelwasser wurde kein Dioxin nachgewiesen. Bei den Bodenuntersuchungen wurden einzig im Einflussbereich der alten Fabrikschlote Giftwerte bis zu 600 Nanogramm gemessen, erste Pflanzenuntersuchungen zeigten aber, dass der Dioxingehalt im Gras bedeutend weniger als 5 ng betrug.

So entsteht Kieselrot

„Viele glauben heute noch an die Giftigkeit des Dioxins im Kieselrot,“ sagt Hobby-Geologe Gerd Rosenkranz. Zurückgeführt werde das auch auf die schlecht verheilenden Wunden beim Fußballspielen auf den Sportplätzen mit Kieselrot. Das Kieselrot reagierte mit dem vielen Jod, mit dem damals die Wunden gereinigt worden sind. Rosenkranz war zu der Zeit selbst als Sanitäter auf den Sportplätzen im Einsatz. „Das Jod in Verbindung mit Dioxin lässt eine Säure entstehen, die die Wundheilung verhindert.“

Kieselrot entsteht nicht durch Schmelzung des Kupfererzes, erklärt Rosenkranz, sondern durch das Aufbereiten der Erze durch Rösten. Während des zweiten Weltkrieges ist das Verfahren in Marsberg angewandt worden. Das geschah in einem Drehtrommelofen. Acht Prozent Kochsalz löste das Kupfer und verglaste die Dioxine in den rotverfärbten Partikeln, die übrig blieben, dem Nebenprodukt Kieselrot.

Giftig war das Rauchgas und der Staub, der sich durch den sogenannten unterirdischen Fuchs über den Schornstein verteilte. Untersuchungen des Grases und dem Laub der Bäume 1939 zeigten eine starke Belastung mit Dioxin. Kühe verendeten auf den Weiden.

56 Menschen, die mit der vermeintlich giftigen Kupferschlacke vermehrt in Berührung gekommen waren, ließen ihr Blut untersuchen. Der Wert lag unter dem Bundesdurchschnitt. Die Muttermilch von jungen Müttern wurde analysiert. Auch sie brachte keine positiven Ergebnisse.

„Zum Glück“, ist Reinhard Schandelle noch heute erleichtert. Dr. Fürst vom Chemischen Landesuntersuchungsamt hatte die Ungiftigkeit des Dioxins darauf zurückgeführt, dass durch die Verarbeitung die Dioxin-Verbindung verglast und sozusagen unsichtbar ummantelt wurde. Diese Ummantelung war auch nicht wasserlöslich. Einzig in Verbindung mit Öl hätte sich die Verglasung aufgelöst und die vergiftende Wirkung wäre freigesetzt worden.

Die Stadt hatte mit einem erheblichen Imageverlust zu kämpfen. Schandelle: „Eine Besuchergruppe aus Japan wollte damals nicht einmal das Rathaus verlassen.“ Wirtschaft und Gewerbe bekam keine Arbeitskräfte mehr. Die Betriebe beklagten Absatzschwierigkeiten ihrer Produkte.

Das Land hatte 250.000 DM zum Ausgleich für entstandene Kosten und für eine positive Imagewerbung zur Verfügung gestellt.