Brilon. Wo steht am Ende die SPD und wo der BVB? Der heimische Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese spricht im Interview über Familie, Corona und Metallica.

Dirk Wiese hat es in der SPD schon weit gebracht. Der 37-jährige Bundestagsabgeordnete ist seit 2012 Vorsitzender der Sauerländer Sozialdemokraten, seit 2018 Sprecher der SPD-Südwestfalen und seit Mai 2020 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Am Samstag tritt er in Brilon-Madfeld (10 Uhr, Schützenhalle) bei der Wahlkreisdelegiertenkonferenz an, um sich der Rückendeckung für seine dritte Bundestags-Kandidatur zu versichern. Das Wahlgesetz fordert dafür Präsenzform mit einem entsprechenden Hygienekonzept. Dass der glücklich verheiratete Vater von zwei Söhnen und bekennende BVB-Fan 2003 in Brilon in die SPD eintrat, hat der Briloner Friedrich Merz mit zu verantworten. Der hatte damals dazu aufgerufen, das rote Rathaus wieder zu stürmen. Und dem wollte Wiese Contra bieten, indem er den damaligen Amtsinhaber Franz Schrewe erfolgreich unterstützte.

Kommunal- und Bundespolitik

Sie haben jahrelang Kommunalpolitik gemacht und anfangs ihrer Berliner Zeit versucht, auf beiden Hochzeiten zu tanzen. Was reizt Sie an der Arbeit als Bundespolitiker, die ja doch eigentlich eher fern der Basis ist?

Zunächst einmal ist es ganz klar die Möglichkeit, etwas zu gestalten und sich für die Belange meiner Heimatregion und ihrer Bürger/innen einzusetzen. Mein Anliegen ist es dabei, immer ein offenes Ohr zu haben. Durch Telefonsprechstunden, Instagram, Facebook und Kontakte vor Ort bin ich eigentlich immer für die Bürger ansprechbar. Mir geht es darum, diese Region voranzubringen. Für mich ist das auch persönlich ein Ansporn. Mein ganzer Freundeskreis wohnt, lebt und arbeitet hier. Viele sind zurückgekommen, ich wohne selbst mit meiner Familie in Brilon und darum möchte ich, dass diese Region liebens- und lebenswert bleibt. Dass ich im Deutschen Bundestag daran mitarbeiten kann, bedeutet ein großes Maß an Verantwortung. Es macht immer noch Freude, auch wenn es aktuell sehr herausfordernde Zeiten sind, mit Anforderungen, die in einem Koalitionsvertrag nicht niedergeschrieben wurden.

Woran denken Sie da konkret?

Ich denke an die Folgen des syrischen Bürgerkrieges oder jetzt an Corona. Beides war mit seinen Auswirkungen so nicht vorhersehbar. Letztes Jahr um diese Zeit haben wir gedacht: Ja, da ist ein Problem in China. Aber dass uns das so unmittelbar berührt mit solchen extremen globalen Folgen, die uns sicherlich auch die nächsten Jahre noch beschäftigen werden – das sind dann Momente, in denen Politik situativ und pragmatisch agieren muss. Als heimischer Abgeordneter hat man eine wichtige Mittlerfunktion zwischen den Sorgen der Bürgern und den Entscheidungen, die wir in Berlin treffen und die unmittelbar in den Alltag eingreifen.

Dirk Wiese vor dem Briloner Rathaus. Hier hat der 37-jährige zunächst auf kommunalpolitischer Ebene angefangen.
Dirk Wiese vor dem Briloner Rathaus. Hier hat der 37-jährige zunächst auf kommunalpolitischer Ebene angefangen. © wp | Boris Schopper

Behalten Sie denn trotzdem das politische Geschehen im Sauerland im Auge?

Der Tag beginnt immer mit Kaffee und dem Lokalteil der Westfalenpost, um zu sehen, was vor Ort bei uns los ist. Ich bin mit ehrenamtlichen Kommunalpolitikern immer im regen Austausch. Das ist mir sehr wichtig. Aber irgendwann war für mich der Punkt erreicht, wo man Kommunalpolitik und Bundespolitik nicht mehr unter einen Hut bringen konnte. Und irgendwann durfte ich es dann auch nicht mehr. Als ich Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium wurde, durfte ich kein Kommunalamt mehr bekleiden. Diese Regelung kannte ich allerdings bei Annahme der Aufgabe ehrlich gesagt auch nicht.

Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Berlin und Sauerland, zwischen Beruf und Familie? Das ist doch mit viel Pendelei und Unruhe verbunden…

Ja, das erfordert viel Organisation. Das muss man schon sagen. Die Hälfte des Jahres bin ich in Berlin, verbringe die Sitzungswochen dort. Aber die andere Hälfte bin ich zu Hause im Sauerland. Das ist in Coronazeiten etwas anders als vor einem Jahr, als viele Präsenztermine hinzukamen. Jetzt wäre die Zeit geprägt durch persönliche Besuche, Weihnachtsfeiern oder zum Beispiel die bevorstehenden Neujahrsempfänge. Aber das ist leider alles so nicht möglich. Insofern bleibt man jetzt z.B. über Videoformate im Gespräch. Aber ja, es erfordert ein hohes Maß an Disziplin, um das alles unter einen Hut zu bekommen. In den letzten sieben Jahren hat das gut funktioniert, auch mit der Familie. Ehrlich gesagt: Wenn man von montags bis freitags in so einer Sitzungswoche in Berlin ist, tut es auch gut, freitags wieder nach Hause zu kommen. Familie und Freundeskreis sorgen auch dafür, dass man mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt.

Als Berufspolitiker Privatmann sein

Kann denn Dirk Wiese zu Hause auch noch Privatmann sein? Oder werden Sie ständig mit Ihrer Arbeit in Berlin konfrontiert?

In meinem engsten Freundeskreis ist das absolut kein Problem. Da steht auch mal nur Fußball und Metallica im Mittelpunkt. Natürlich hat der eine oder andere aber auch ein paar politische Fragen. Das ist ja auch in Ordnung. Aber ein Schützenfest Samstagabend an der Theke ohne Politik, das geht nicht. Ist aber auch nicht schlimm, mache ich gerne.

Haben Sie eigentlich mit der Entscheidung, ein drittes Mal anzutreten, gezögert? Oder anders gefragt: Könnten Sie sich vorstellen, dass für Sie eine andere berufliche Phase kommt?

Der Rückhalt der Familie ist für so eine Entscheidung extrem wichtig. Den habe ich und den brauche ich auch. Gerade in der jetzigen Situation, wo ich nochmal frisch Vater geworden bin – mein Sohn ist gerade ein paar Wochen alt. Man muss aber auch ganz bewusst Familie in den Kalender eintragen. Das gehört auch mit dazu und da hat auch jeder Verständnis für, wenn man einen Termin verschieben muss und das offen anspricht. Politiker-Biografien, wie die von Wolfgang Schäuble, der seit 1972 im Deutschen Bundestag sitzt, haben aber eher Seltenheitswert.

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Und wo sehen Sie sich in zehn oder fünf zehn Jahren?

Machen wir das mal auf Wiedervorlage in zehn oder fünfzehn Jahren. Ansonsten halte ich es mit Willy Brandt: Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.

Schlechte Umfragen für Volkspartei

Die aktuellen Umfrage-Ergebnisse für die SPD sind ja nicht gerade rosig. 15,4 Prozent für eine Volkspartei – ist das nicht frustrierend?

Wenn da mal 30 Prozent stehen würden, wäre einiges viel entspannter. Allerdings sind das natürlich auch nur Umfragen. Entscheidend ist nächstes Jahr im am 26. September, wenn gewählt wird. Dann kommt es drauf an. Bis dahin ist noch einiges im Fluss. Die SPD hat relativ früh geklärt, dass Olaf Scholz Kanzlerkandidat wird. Die Union hat diesen Klärungsprozess noch vor sich. Angela Merkel wird nach 16 Jahren nicht mehr antreten, dadurch wird sich noch relativ viel verschieben. Umfragewerte sind immer ein Zwischenstand, sie könnten besser sein. Für das, was momentan in jedenfalls in der Bundesregierung von beiden Koalitionspartnern geleistet wird, müssten die Werte auch bei uns besser sein.

Stichwort Corona: Glauben Sie, dass die Bundesregierung einen guten Job macht und dass die Entscheidungsbefugnisse richtig verteilt sind?

Ich glaube, dass wir eine ordentliche Arbeit abliefern. Klar, gibt es auch Kritik. Das ist aber auch wichtig, um sich selbst kritisch zu hinterfragen. Die Frage, ob das Parlament ausreichend einbezogen ist, ist immer auch eine Frage der Perspektive. Wir als Koalitionsfraktion sind natürlich sehr intensiv eingebunden. Das ist allerdings bei dem Kollegen, der in der Opposition sitzt, etwas anders. In meiner Funktion als stellvertretender Fraktionsvorsitzender für die Bereiche Innen, Recht, Kultur und Sport bin ich sehr eng in die Verhandlungen und Abstimmungsprozesse eingebunden. Übrigens hat der Deutsche Bundestag in den letzten Wochen über 30 Gesetze und rund 70 Debatten im Hinblick auf Corona beschlossen bzw. geführt.

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Wann ist der Corona-Spuk vorbei?

Glauben sie, dass der Corona-Spuk- zumindest was das Infektionsgeschehen anbelangt – im nächsten Jahr vorbei sein wird?

Wir müssen nach wie vor sehr verantwortungsvoll mit dieser Lage umgehen. Gemeinsam und solidarisch und mit der gebotenen Rücksichtnahme wird es aber gelingen. Derzeit erleben wir jedenfalls stagnierende Fallzahlen. Leider aber noch auf hohem Niveau. Es wird zwar eine ganze Zeit dauern, bis alle, die geimpft werden möchten, auch geimpft sind. , denn wir können ja nicht an einem Tag 80 Millionen Menschen impfen. Eine gewisse Zeit werden Abstandhalten, Hygieneregeln befolgen und Maske tragen uns also noch begleiten.

Glauben Sie, dass die Soforthilfen in der Gastronomie oder bei Kulturschaffenden wirklich ankommen. Man hört sehr oft, dass die Antragstellung sehr bürokratisch sei…

Die aktuelle 75-Prozent-Regel mit den Überbrückungs- und Soforthilfen ist immens wichtig. Das ist für den Bundeshaushalt ein finanzieller Kraftakt und geht nicht immer ganz ohne bürokratische Hürden. Dennoch prüfen wir fortwährend, ob die entsprechenden Hilfsmaßnahmen weiterer Anpassungen bedürfen, um zielgenau vor Ort anzukommen. Hier stehe ich fortwährend mit vielen Hoteliers, Gastronomen oder aber auch Vereinsvertretern in Kontakt.

Wie sieht das mit der Kultur aus?

Kultur ist von immenser Bedeutung für unser Zusammenleben. Insbesondere Musikkonzerte fehlen mir gerade besonders. Darum ist eine finanzielle Unterstützung hier besonders wichtig, die wir übrigens nach Kritik in den letzten Wochen und Monaten sehr angepasst haben. Es wird nun einen fiktiven Unternehmerlohn geben und, es wird bei den Betriebskosten mehr anrechnungsfähig sein. Wir haben zudem für Solo-Selbständige ein vereinfachtes Verfahren gemacht - ohne Steuerberater mit bis zu 5000 Euro Unterstützung, die man bekommen kann. Ich hatte zuletzt viel mit den Schaustellern zu tun, die wirklich eine absolut prekäre Situation durchleben und das letzte Geld auf den Weihnachtsmärkten 2019 verdient haben. Auch dort haben wir nochmal wichtige Anpassungen bei den Hilfen hinbekommen. Die Kultur-Staatsministerin im Kanzleramt schaut mir oftmals zu sehr auf die großen Kulturprojekte – auf die großen Museen, Theater oder Opernhäuser. Aber es sind für mich eher die vielen Künstler und Künstlerinnen im Kleinen, die bei uns vor Ort im Sauerland mit ihren tollen Projekten und viel Herzblut auf der Bühne stehen – die brauchen genauso die Unterstützung. Es wäre ein großer Verlust, wenn da etwas verloren ginge. So ein intaktes Kulturleben ist auch ein weicher Standortfaktor für eine Stadt im Sauerland. Das gilt übrigens auch für den Amateur und Breitensport, wo den Vereinen durch das Ausbleiben von Zuschauern sehr viele Einnahmen wegbrechen.

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Besseres Netz für Kulturschaffende

Müsste man aus der Erfahrung mit Corona nicht vielleicht das soziale Netz für Künstler generell stärker ausbauen?

Klares Ja. Wenn bei Künstlern alles läuft und sie ihre Kreativität ausleben, wird manchmal schon die soziale Absicherung beiseite geschoben. Die Künstlersozialkasse ist etwas, das die SPD mal eingeführt hat, aber sie muss erweitert werden. In diesen Zeiten merken viele, wie wichtig ein funktionierender Sozialstaat mit einem sicheren Netz ist.

Werfen wir einen Blick nach Amerika und auf Donald Trump: Ist es denkbar, dass auch bei uns eine Person wie er es bei uns bis ins höchste Staatsamt schaffen könnte?

Ich glaube bei uns ist eine Sache grundlegend anders: Die demokratischen Parteien gehen trotz bestehender Meinungsverschiedenheiten in der Sache respektvoll miteinander um. Diese Kompromissfindung als solcher ja verteufelt. Sie ist aber nicht zu unterschätzen. Ein erfahrenes SPD-Ratsmitglied sagte mir einmal vor langer Zeit: Man kann sich heftig in der Sache streiten, aber am Ende des Tages muss man immer noch an der Theke gemeinsam ein Bier trinken können. Dem ist nichts hinzuzufügen. In den USA haben wir mittlerweile so eine Spaltung zwischen den Parteien, dass dies nicht mehr möglich ist. Man darf sich aber auch bei uns nicht zurücklehnen; auch bei uns haben populistische Tendenzen zugenommen. Man muss immer zeigen, wie wichtig unsere Demokratie ist. Und am Ende muss immer das bessere Argument zählen und nicht der, der am lautesten schreit oder bei Facebook die dümmsten Kommentare macht.

Gibt es irgendwas, auf das Sie besonders stolz sind, weil Sie es für das Sauerland in Berlin erreicht haben?

Es gibt viele Entscheidungen in den letzten sieben Jahren, die für das Sauerland gut waren und richtig was gebracht haben. Ich denke spontan an zwei Dinge aus der jüngeren Vergangenheit. Wir haben es hingekriegt, für das Stadion Große Wiese in Hüsten Gelder für die Sanierung zu bekommenen. Dadurch werden dort auch wieder überregional interessante Freundschaftsspiele stattfinden können. Das ist ein Aushängeschild für das Sauerland. Und bei den Waldhilfen hat es zuletzt gehakt. Da bin ich froh, dass mir und meiner Kollegin Gitta Connemann von der CDU ein Durchbruch bei den 500-Millionen-Euro-Hilfen gelungen ist. Das sind zwei Beispiele aus den letzten Wochen, die zeigen, dass man für die Region sehr viel bewegen kann.

Ziele für das Sauerland

Welche beiden Ziele für das Sauerland müssen dringend noch angegangen werden?

Das betrifft zum einen ganz Südwestfalen im Hinblick auf die Herausforderungen als Industrieregion. Ich denke da besonders an die Automobilzulieferindustrie. Das zweite betrifft die Infrastruktur auf Straße und Schiene, aber auch bei einer wohnortnahen Krankenhausversorgung. Und in puncto Straße ist da die Herausforderung, dass die Autobahn nicht in Antfeld endet, sondern dass es weitergeht?

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Wann wird dafür der erste Spatenstich gesetzt?

Ich werde alles dafür tun, dass es zügig geht.

Letzte Frage an den Fußball-Fan Dirk Wiese. Auf welchem Platz wird der BVB zum Saisonende stehen und wie viel Prozent holt die SPD bei der nächsten Bundestagswahl?

Ich sage mal so: Im Sauerland ist die CDU ja nun mal Favorit. Am Anfang der Bundesligasaison denken aber auch alle immer, dass die Bayern auf Platz Eins sind. Und dann gibt es doch Zeiten, wo das nicht so ist. So wie Dortmund mal wieder Deutscher Meister werden soll, werde ich auch in der Politik auf Sieg spielen. .Abgerechnet wird jedenfalls am 26. September bzw. am 34. Spieltag. Und ganz nebenbei: Wie man Fan des FC Bayern sein kann, das habe ich noch nie nachvollziehen können. Da halte ich es mit den Toten Hosen: Ich würde nie zum FC Bayern München geh`n.

Auf eine Zahl wollen Sie sich aber nicht festlegen?

Wenn man antritt, will man auch gewinnen. Von daher wollen wir die Bundestagswahl gewinnen und dafür sorgen, dass auch im Sauerland eine Überraschung möglich ist und Olaf Scholz Kanzler wird. Dass Siege möglich sind, haben Ralf Paul Bittner in Arnsberg und Christoph Bartsch in Brilon gezeigt. Das heißt, wir brauchen uns hier nicht verstecken und können sehr selbstbewusst in den Wahlkampf ziehen.