Hagen. 4.000 Kilometer hat Emad Mehriyar bis nach Hagen zurückgelegt. Dank des Volleyballs findet der Iraner schnell Anschluss in Deutschland.

Wer als normal gewachsener, durchschnittlich großer Mensch vor dem 2,43 Meter hohen Volleyballnetz steht, empfindet dies schon als schwierig zu überwindendes Hindernis. Emad Mehriyar, Neuzugang beim Volleyball-Bezirksligisten TSV Hagen 1860, kann allerdings über diese Sichtweise nur lächeln und das hat nur ganz am Rande etwas damit zu tun, dass der Iraner mit 1,93 Meter beachtliches Gardemaß aufweist.

Denn verglichen mit den Hindernissen und Schicksalen, die Mehriyar in seinem noch jungen Leben schon überwinden musste, ist so ein Volleyballnetz eine absolute Kleinigkeit, auch wenn in seinem aktuellen Leben das Spiel am Netz einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Doch bis es soweit war und der durchtrainierte 26-jährige in Deutschland überhaupt wieder an Volleyball denken konnte, musste eine unvorstellbare Leidenszeit durchlebt werden.

Im November 2015, genau am 4. November, entschloss sich Mehriyar, seinem Land, seinem Geburtsort Teheran, den damit verbundenen Erinnerungen, aber auch der Armut und den Entbehrungen den Rücken zu kehren. Dies geschah allerdings alles andere als freiwillig, denn zu behaupten, dass der Iraner eine glückliche Kindheit gehabt hätte, wäre eine glatte Lüge. Als jüngstes von drei Kindern erlebte Mehriyar physische und psychische Gewalt, die mit den Jahren so dramatisch zunahm, dass Emad keinen Ausweg mehr sah und seine Familie und seine Heimat verließ – wohlwissend, dass ihn die härteste Zeit seines Lebens erwarten würde.

4000 Kilometer in die Ungewissheit

Es hieß Abschied von seinen beiden Geschwistern und seiner Mutter, und mit nichts mehr als der Kleidung am Leib und den besten Wünschen seiner Familie marschierte Mehriyar los. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: In einer mehr als halbjährigen Flucht, zum großen Teil zu Fuß und unterbrochen nur von einer kurzen Schiffspassage über das Mittelmeer und wenigen Zugetappen legte Mehriyar über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Kroatien und Slowenien bis nach Österreich, 4000 Kilometer Schritt für Schritt zurück, unter unglaublichen Entbehrungen lief der damals 23-jährige hunderte Kilometer pro Monat – ohne genau zu wissen, ob seine Odyssee von Erfolg gekrönt sein würde.

Auch interessant

Dann, im Februar 2016, erreichte der mittlerweile völlig ausgemergelte Iraner österreichisches Staatsgebiet und bekam zum ersten Mal eine Vorstellung davon, dass sich alle Strapazen vielleicht doch gelohnt haben könnten. „Ich musste nicht mehr jeden Tag laufen und mich wie auf der Flucht fühlen“, erinnert sich der zurückhaltende und extrem höfliche Mehriyar zurück. Fast zwei Jahre verbrachte er in der Alpenrepublik, ehe er nach Deutschland einreiste und am 31. Januar 2018 einen Asylantrag stellte. Im Oktober 2018 kam der Iraner dann nach Hagen und auch, wenn damit das Schlimmste überstanden war, gab es noch eine Vielzahl von Hürden zu überwinden: Behördengänge, Asylanträge, Sprachbarrieren allerorten machten die weiteren Monate zur nächsten Herausforderung.

Dittmer bringt Ordnung in sein Leben

Wie ein Wunder erschien ihm dann Monika Dittmar, die den Flüchtling, der in unzählig vielen Bereichen noch Hilfe benötigte, etwas unter ihre Fittiche nahm und Struktur in die – logischerweise – recht chaotischen Lebensumstände brachte.

Monika Dittmer (rechts) nimmt sich des Schicksals von Emad Mehriyar nach seiner Ankunft in Deutschland an.
Monika Dittmer (rechts) nimmt sich des Schicksals von Emad Mehriyar nach seiner Ankunft in Deutschland an. © Nicole Schneidmüller-Gaiser

trotz parkinson bleibt hartmut krömer dem judo treuSie vermittelte erste soziale Kontakte zur Pauluskirchengemeinde Wehringhausen, denn Mehriyar ist Christ, und zur Volleyball-Abteilung des TV Hasperbach, sorgte für Sprachkurse und vermittelte ihm eine ehrenamtliche Tätigkeit im sozialen Küchenstudio, ein Produkt der Initiative Hagen ist Bunt. „Ohne Monika und ihren Mann Lothar Zielke hätte ich das alles niemals geschafft und wäre verloren gewesen“, blickt Mehriyar mit größter Dankbarkeit zurück.

Und auch Dittmar kann nur Positives über Mehriyar sagen: „Er ist außergewöhnlich zuverlässig, freundlich, höflich, hilfsbereit und ich glaube auch sagen zu können, ehrlich“, so Dittmar. Untergebracht war Mehriyar bis vor wenigen Wochen durch die Stadt Hagen in einem Flüchtlingsheim, bewohnt nur von männlichen Zufluchtssuchenden.

Über den Sport an einen Beruf

Mittlerweile, nach drei unglaublich bewegten Jahren, freut er sich über enorme Fortschritte in allen Bereichen. Er ist mittlerweile nach Eilpe umgezogen, wo er zumindest ein eigenes Zimmer in einer Gemeinschaftsunterkunft bewohnt, „was ein unglaublich schönes Gefühl ist“, wie Emad immer wieder betont. Er hat vor allem dank der tatkräftigen Unterstützung von Christian Bunse, Volleyballer beim TSV Hagen und selbstständiger Industrie-Designer, einen Fuß in den Arbeitsmarkt schieben können, hat bei der Firma „Filmriss“ bereits bewiesen, dass er ein Mann ist, auf den sich ein Arbeitgeber verlassen kann und zudem machen auch seine Deutschkenntnisse rasante Fortschritte. Sie werden letztlich der Schlüssel dafür sein, dass Mehriyar irgendwann in seinen Traumjobs als Automechaniker, jenem Beruf, den er im Iran erlernte, oder als Kraftfahrer tätig werden kann.

Und dann ist da am Ende natürlich noch die Sache mit dem Volleyballsport, der in Emad Mehriyars Leben allen Widrigkeiten zum Trotz immer eine große Rolle gespielt hat. „Dieser Sport gibt mir so viel und hat mir immer so viel gegeben, dass ich mir ein Leben ohne diesen nicht vorstellen kann“, sagt Mehriyar. Seine Augen bekommen einen besonderen Glanz, wenn er über Volleyball spricht.

Mehriyar bleibt aus Dankbarkeit

Im Iran spielte er in der zweithöchsten Klasse auf absolutem Top-Niveau und wenn man ihn heute auf dem Volleyball-Feld sieht, kann man sich vorstellen, wie sein Spiel aussehen wird, wenn der Kopf nicht mehr ständig mit existenziellen Fragen beschäftigt sein muss. „Keiner aus unserer Mannschaft hat jemals einen Spieler gesehen, der mit solch einer Wucht angreifen kann“, ist nicht nur Stefan Roggenthien, der den TSV-Neuzugang zwei Mal die Woche zum Training bringt und schon eine Menge im Volleyballsport erlebt hat. In jeder Einheit begeistert der iranische Angreifer mit seiner unbändigen Kraft aufs Neue. Mindestens die Regionalliga trauen ihm alle die ihn bislang schon mal spielen gesehen haben, zu, mit regelmäßigem Training und intensiver Förderung könnte sogar die zweite oder dritte Liga eine Option sein.

Doch das ist aktuell nicht mehr als Zukunftsmusik, denn Mehriyar fühlt sich bei den 60ern absolut wohl und willkommen; dass die Bezirksliga etwas unter seinen Möglichkeiten liegen könnte, ist ihm herzlich egal. „Ich bin so gerne mit den Jungs zusammen und als Dankeschön für das, was sie in den ersten Monaten für mich getan haben, werde ich sie zum Saisonabschluss zu einem großen, typisch iranischen Essen bei mir einladen“, so Mehriyar. Und das wäre eine schöne Zwischenetappe auf einem Weg, der vor fast vier Jahren unter unwahrscheinlichen Widrigkeiten begonnen hat.