Dortmund. BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl erklärt im Interview, wie Dortmund in einem immer schwierigeren Umfeld bestehen will - und spricht über Ziele.
- BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl spricht im großen Interview
- Kehl zeichnet sein Bild vom BVB der Zukunft
Sebastian Kehl schaut einmal genau hin. „Das ist Niclas Jensen“, verkündet er dann nach einem Blick auf das große Bild im Besprechungsraum, das eine Spielszene vor rund 20 Jahren zeigt – und Kehl ist mittendrin. Von 2002 bis 2015 spielte er für Borussia Dortmund, inzwischen ist er Sportdirektor. Im Interview spricht er über die Tücken der Kaderplanung, die Lage des BVB und die Ambitionen für die laufende Saison.
Herr Kehl, können Sie in der Länderspielpause abschalten oder schauen Sie mit bangem Blick auf Ihr Handy, ob sich jemand verletzt hat?
Sebastian Kehl: Die vergangenen Tage sind schon etwas ruhiger gewesen, der Trainingsbetrieb war durch die Abwesenheit vieler Spieler eingeschränkt, es gab keine Testspiele, deshalb konnte ich die Zeit nutzen, um fernab des Tagesgeschäfts viele Gespräche zu führen. Auch mit Vertretern anderer Abteilungen, denn dieser Austausch kommt im Wettbewerbsalltag häufig zu kurz. Aber natürlich verfolge ich die Auftritte unserer Nationalspieler intensiv. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe, in die jeder Profi nach dem Spiel einen persönlichen Status einstellt – wie er sich fühlt, ob alles in Ordnung ist.
BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl: "Ich kann und will dem DFB nicht vorschreiben, wie er seine Flüge gestaltet"
Und ist bei allen alles in Ordnung?
Sebastian Kehl: Es scheinen bislang alle ganz gut durchgekommen zu sein.
Seine deutschen Nationalspieler holt der BVB sogar mit einem Jet aus den USA zurück. Warum?
Sebastian Kehl: Ich glaube, dass wir über die Problematik dieser Reise in den vergangenen Wochen bereits sehr ausführlich in der Öffentlichkeit gesprochen haben. Deshalb nur kurz: Unsere deutschen Nationalspieler wären erst am Donnerstag hier in Dortmund gewesen, mit Jetlag, und dann wär’s auch fast schon ins Teamhotel gegangen, denn wir haben ja am Freitag Werder Bremen zu Gast. Deswegen haben wir uns entschieden, sie auf diesem ungewöhnlichen Weg zurückzuholen, damit sie bereits am Mittwoch ankommen und einen Tag länger regenerieren können. Das ist nur professionell, wenn auch sicher eine Sondersituation.
Wundert es Sie, dass der Deutsche Fußball-Bund mit einer Linienmaschine erst so spät zurückkommt?
Sebastian Kehl: Ich kann und will dem DFB nicht vorschreiben, wie er seine Flüge gestaltet. Die Dinge zwischen uns und dem Verband sind geklärt. Für den BVB ist das jetzt die beste Lösung.
Mit welchem Gefühl gehen Sie in die kommenden wichtigen Wochen?
Sebastian Kehl: Ich freue mich darauf, ich liebe diese Zeit mit den vielen Spielen, den Partien im Signal Iduna Park vor ausverkauftem Haus, den Reisen. Gegen Werder Bremen sollten wir den Anspruch haben, etwas gutzumachen. In der vergangenen Saison haben wir spät eine Führung aus der Hand gegeben und in der Nachspielzeit verloren. Am Freitag können wir nun vieles in die richtige Richtung lenken.
In der Liga ist Dortmund oben mit dabei, da kann man doch mal mutig von der Meisterschaft reden.
Sebastian Kehl: Wir haben die medialen Debatten zu Beginn der Saison als zu negativ empfunden – denn wir haben aktuell einen Schnitt von 2,4 Punkten pro Spiel. (Lacht) Und jetzt wollen Sie, dass wir zwei Wochen danach wieder die Meisterschaft als Ziel ausrufen? Da sieht man, wie volatil das Geschäft ist. Dass es leider nur noch Schwarz und Weiß, aber selten einmal Grautöne gibt. Die Wahrheit ist: Wir haben in den ersten Wochen keine Sterne vom Himmel gespielt, trotzdem haben wir uns gefangen, Mentalität gezeigt, Spiele gedreht, uns in allen Bereichen gesteigert. Wir sind auf einem richtig, richtig guten Weg. Und das grundsätzliche Ziel hat sich nie verändert: Borussia Dortmund hat immer um Titel mitgespielt, will das immer und wird es immer tun. Aber es gibt eben Mannschaften wie Bayern, Leverkusen und Leipzig, die das auch wollen. Und durchs reine Formulieren ist noch niemand einem Titel auch nur einen Zentimeter nähergekommen.
BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl: "Wir haben in den zwei Spielen gegen Newcastle die Möglichkeit, wieder anzugreifen"
Bei den BVB-Fans war zu Beginn der Saison eine Unruhe zu spüren. Es gab Pfiffe.
Sebastian Kehl: Ich glaube, dass nach dem Mai-Erlebnis der Wunsch da war, etwas noch Größeres zu kreieren. Aber die Menschen müssen verstehen, dass wir Zeit benötigen, dass auch Veränderungen im Kader immer erst fruchten und sich Automatismen mit neuen Spielern erarbeitet werden müssen.
In der Champions League hat der BVB erst einen Punkt geholt. Befürchten Sie das Aus?
Sebastian Kehl: Es ist eine Hammergruppe, in der wir sicher nicht der Favorit sind, aber ich glaube dennoch ans Weiterkommen. Wir haben in den zwei Spielen gegen Newcastle die Möglichkeit, wieder anzugreifen.
Ein Ziel von Borussia Dortmund lautet, zu den Top 15 in der Uefa-Klubrangliste zu gehören. Das erscheint schwieriger denn je. Wie soll sich der BVB in Europa behaupten?
Sebastian Kehl: Es gibt neue Player am Markt, wenn man sich alleine unsere Gruppe anschaut, dann hat Newcastle wahnsinnig viel Geld investiert, auch Milan. Paris ohnehin. Wir müssen schon seit langer Zeit mit diesen Herausforderungen umgehen. Wir benötigen die Champions League jedes Jahr aus wirtschaftlichen Gründen, und wir werden nicht akzeptieren, dass wir uns einfach sportlich hintenanstellen. Ja, wir haben Wettbewerbs-Nachteile im Vergleich zu Klubs, hinter denen milliardenschwere Besitzer oder ganze Staaten stehen, wir müssen unser eigenes Geld verdienen und wir werden immer wieder schauen müssen, dass wir auch Spieler verkaufen. Natürlich hätte ich auch gerne einen Jude Bellingham behalten, wenn man sieht, welchen Stempel er Real Madrid jetzt schon aufdrücken kann. Trotzdem: Wir möchten eine wichtige Rolle in Europa spielen.
Was heißt wichtig?
Sebastian Kehl: Das ist eine Langzeitbetrachtung. Die Gruppenphase zu überstehen, ist immer unser Ziel. Das haben wir in den vergangenen Jahren auch meistens erreicht. Aber natürlich das ist in diesem Jahr angesichts der Gruppenauslosung schon eine enorme Herausforderung. Obendrein braucht es nach der Gruppenphase immer ein bisschen Losglück. An zwei guten Tagen können wir auch eine europäische Topmannschaft schlagen, um noch ein oder zwei Runden weiterzukommen.
Als es in der vergangenen Rückrunde um die Meisterschaft ging, herrschte Euphorie in Dortmund. Wie will man diese erhalten, sollte der FC Bayern doch wieder enteilen?
Sebastian Kehl: Es ist keine leichte Aufgabe für den gesamten Klub und seine Mitarbeiter, sich jedes Jahr gefühlt rechtfertigen zu müssen, dass man Zweiter geworden ist. Wir haben alle den Anspruch, etwas nach oben zu strecken und auch wieder Deutscher Meister zu werden, die Dominanz der Bayern punktuell zu brechen. Wir waren und sind in den Augen der Menschen immer der Herausforderer Nummer eins. Am Ende muss man es aber trotzdem hinbekommen, dass die Motivation und die Zufriedenheit der Menschen nicht ausschließlich von Platz 1 oder von einem Titel abhängen, denn dieses Rennen, das wir gewinnen möchten, ist wirtschaftlich betrachtet eben ein ungleiches. Unabhängig davon, dass wir das letzte hätten gewinnen müssen.
Sebastian Kehl über den BVB: "Wir nehmen die Herausforderung an"
Das klingt alles schwierig angesichts der Sehnsucht in Dortmund.
Sebastian Kehl: Ja, aber wir nehmen die Herausforderung an. Es wird wichtig sein, das Stadionerlebnis zu etwas Besonderem zu machen, immer wieder berauschenden Fußball zu bieten. Außerdem können wir ja auch einfach mal stolz darauf sein, Topstars wie Erling Haaland und Jude Bellingham in den eigenen Reihen gehabt und sie entwickelt zu haben. Wir benötigen über Titel hinaus weitere Facetten , die diesen Klub einfach besonders machen. Und die haben wir noch und nöcher. Nur besonders zu sein, weil man Erster ist, kann nicht unser Ansatz sein. Denn das wird nicht immer gelingen.
Sie treten mittlerweile sogar gegen Staaten an, Saudi-Arabien hat noch mehr Geld in den Markt gebracht. Wie wirkt sich dies aus?
Sebastian Kehl: In manchen Ablöse- und Gehälter-Bereichen können wir nicht mehr mitspielen, das müssen wir akzeptieren und unsere Schlüsse daraus ziehen. Wir müssen kreativer, mutiger sein, auch mal ablösefreie Spieler verpflichten und junge Spieler möglicherweise noch früher holen. Dabei geht man dann logischerweise verstärkt Risiken ein. Ein Beispiel ist Julien Duranville, der sich noch im Wachstum befindet, der leider aktuell immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen hat. Wir bauen ihn behutsam auf und glauben an ihn, aber das benötigt eben Zeit.
Was bedeutet Mut im Zusammenhang mit Transfers?
Sebastian Kehl: Julian Ryerson war aus meiner Sicht eine mutige Lösung, also: jemanden von Union Berlin im Winter zu verpflichten, der nicht jedem Fan sofort ein Begriff war. Heute sieht man, wie wichtig er für uns ist. Mutig wird auch sein, wieder Talente aus dem Nachwuchsleistungszentrum nach oben zu führen, damit wir von unserer Arbeit dort profitieren.
Dies war der erste Teil des Gesprächs - der zweite erscheint am Mittwochmorgen.
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