Essen. Jochen Dawidowski begleitete viele Jahre die Ultras Gelsenkirchen zu Spielen. Wer sind die Männer? Und wie gewaltbereit sind sie?
Pyrotechnik in den Stadien, reichlich Alkoholkonsum vor den Toren, Schlägereien, Beschimpfungen, Beleidigungen. Was geht ab in den Fußballstadien und deren Umfeld? Wo Fußball doch die schönste Nebensache der Welt ist. Polizist a.D. Jochen Dawidowski war als szenekundiger Beamter – so der Polizeijargon – jahrzehntelang dabei, wenn Schalker Fußball-Fans zu Auswärtsspielen reisten und gewährt einen Blick in die gewaltbereite Szene. Er räumt aber auch mit Vorurteilen auf.
In Berlin hießen die Hertha-Anhänger Frösche, das lag an den grünen Mitgliedsausweisen. Höllisch geht es auf dem Betzenberg in Kaiserslautern zu, wo Luzifer ‘98 die roten Teufel auf dem grünen Rasen anfeuert. Ultras Gelsenkirchen (UGE) nennt sich die größte aktive Fanszene von Schalke 04 und in Deutschland. Die Anhänger der Blau-Weißen bereiten ihren Herzensclub überallhin und zeigen innerhalb und außerhalb der Stadien Flagge. Meist geht es dabei friedlich zu. Aber nicht immer: Die Hugos, so nennt sich ein anderer und gewaltbereiter Teil der Schalke-Fans, liefern sich vorsätzliche Schlägereien mit Anhängern des Gastvereins. Diese werden häufig mit dem Gegner vereinbart, damit Chancengleichheit besteht.
„„Früher hörten Schläger auf, wenn einer am Boden lag““
Dass die Königsblauen Dawidowski am Herzen liegen, ist kein Wunder, liegt sozusagen in seiner DNA: In Gelsenkirchen geboren, früh Fan geworden, als Privatmann 1997 beim UEFA-Pokal-Triumph in Mailand dabei – so etwas vergisst man nicht. Dann kam die Fußball-Europameisterschaft 1998 in Frankreich, während der deutsche Hooligans den französischen Polizisten Daniel Nivel in Lens beinahe zu Tode traten und prügelten. Nivel fiel ins Koma, leidet bis heute unter schwersten Behinderungen. Für Jochen Dawidowski, bis dahin mit verschiedenen Spezialjobs bei der Polizei im Einsatz, war das Schicksal von Daniel Nivel einer der Gründe, ab 2006 als szenekundiger Beamter im In- und Ausland ein Auge auf die Schalker Fans zu haben. Als Begleiter, der mögliche Straftaten verhindern soll, aber auch als Ansprechpartner.
Ganz entschieden wendet sich Dawidowski gegen ein weit verbreitetes Vorurteil: „90 Prozent der Fans sind friedlich, wollen ihren Verein lediglich unterstützen. Mit Gesängen, Transparenten, Choreographien. Wirklich gewaltbereit sind etwa zehn Prozent. Die wollen sich unbedingt mit anderen messen und nehmen es in Kauf, dabei was abzukriegen, verletzt zu werden, haben vorsichtshalber Zahnschutz und Schmerztabletten dabei. Nach der Schlägerei brüsten sie sich dann auf einer speziellen Internet-Plattform damit, dabei gewesen zu sein“, erzählt der 62-Jährige, der seit August dieses Jahres im Ruhestand ist.
„Von Arbeitslosen bis zu Rechtsanwälten ist alles dabei. Also nicht nur junge Männer, die sich abgehängt fühlen.“
Was sind das für Leute, die sich ganz bewusst und ohne Anlass bekämpfen und dabei sogar gefährliche Waffen wie Baseball-Schläger oder Teleskop-Schlagstöcke einsetzen? Dawidowski warnt vor Pauschalisierungen: „Von Arbeitslosen bis zu Rechtsanwälten ist alles dabei. Also nicht nur junge Männer, die sich abgehängt fühlen. Auch machen viele mit, die unter der Woche an der Werkbank stehen, am Schreibtisch völlig unauffällig ihren Job machen oder zur Schule gehen.“
Extrem gefährlich, so der Experte, seien dagegen manche Kampfsportler unter den Hugos, die sechsmal die Woche trainierten.
Viele Situationen mag sich der Laie gar nicht vorstellen. „Früher hörten die sogenannten Fans auf, wenn jemand am Boden lag. Heute wird noch weiter gegen den Kopf getreten“, hat Dawidowski beobachtet. Besonders blutig ging es im Februar 2023 zu, als rund 150 Ultras aus Köln, Essen und Dortmund – die Vereine gelten als befreundet – frühmorgens über 600 Schalker herfielen, die in Bussen zum Kick bei Union Berlin starten wollten. Da habe man massiv eingreifen müssen. Dawidowski: „Dem Kölner, der da lag, haben wir vermutlich das Leben gerettet.“ Traurige Bilanz der Attacke: vier Schwerverletzte, darunter ein unbeteiligter Busfahrer. Einige Täter habe man ermitteln können.
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Doch wie können die Ordnungshüter die Kontrolle behalten – vor allem, wenn sich der gewaltbereite Teil der Fanszene über Social Media innerhalb von Minuten zu Schlägereien verabredet? Für Dawidowski und seine Kollegen ist es deshalb wichtig, frühzeitig informiert zu sein, um Schlimmeres zu verhindern – was nicht immer gelingt. Dringt etwas durch, ist die Polizei alarmiert. „Wenn Straftaten anstehen, greifen wir zu“, betont der Polizeibeamte.
Da die Eskalation der Gewalt nicht immer vorhersehbar ist, gehe es mehr darum, Kontakt zu den Fans zu suchen. In erster Linie mit den Capos, wie die Vorsänger im Stadion genannt werden. Sie nehmen oft eine Führungsrolle ein. „Es kann zehn Jahre dauern, bis man dort akzeptiert wird“, weiß der Kenner der Szene – was harte Maßnahmen, die jederzeit erfolgen können, nicht ausschließt: „Ich habe schon 100 Personen aufgrund ihrer Gefahrenprognose die Ausreise zu einem Schalke-Spiel verweigert“, stellt Dawidowski fest. Doch in der Regel akzeptierten die Ultras die Absprachen, die zuvor mit der Polizei getroffen worden seien. Zum Beispiel: keine Pyrotechnik, kein Verhängen von Fenstern – Durchgängen – im Stadion. „Daran müssen sie sich halten.“
Zu Beginn seiner Arbeit als Fan-Begleiter hätten sich alle Beteiligen nur vom Schreibtisch aus um die Anhänger und ihre Belange gekümmert. „VRR, Bogestra, Bahn und Stadt arbeiteten nebeneinander her. Sonder- und Entlastungszüge waren oft nicht aufeinander abgestimmt. Fanprojekte wurden nicht wahrgenommen.“ Der Polizei sei es inzwischen gelungen, alles besser zu koordinieren – woran Jochen Dawidowski sicher Anteil hat. Wichtig sei vor allem, dass man miteinander rede, sagt er, der bis heute ein glühender Verehrer der Knappen ist: „Sich neutral und ohne vorgefasste Meinung mit den Fans an einen Tisch zu setzen, das ist der beste Weg.“
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