Paris. Mehr Gold bei Olympischen Spielen in Paris, aber weniger Medaillen insgesamt. Der deutsche Sport sehnt Veränderungen herbei.
Um die Faszination Olympischer Spiele zu verstehen, helfen zu deren Abschluss in Paris vielleicht noch mal drei Geschichten.
Yemisi Ogunleye gewann am späten Freitagabend Gold mit ihren glatten 20 Metern im Kugelstoßen und im Dauerlächeln. Die 25 Jahre alte Pfälzerin ist eine sehr gläubige Frau, deshalb hat der erste Platz im Stade de France für sie eine größere Bedeutung als nur die Medaille. Sie erhielt gerade eine Nachricht von ihrem Bruder und von einer guten Freundin, deren Kinder Ogunleye daheim am Fernseher zum ersten Kugelstoß-Olympiasieg seit Astrid Kumbernuss 1996 angefeuert hatten, und sagte: „Als ich gesehen habe, dass die Kleinen so begeistert waren, wusste ich, dass diese Medaille auch für die kommende Generation ist und sie ermutigen soll, an ihren Träumen festzuhalten.“
Olympia 2024: Noch mal drei Medaillen-Überraschungen zum Abschluss
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Wie es ist, als Außenseiterin von den Zuschauermassen noch zu einer Medaille getragen zu werden, wird Esther Henseleit niemals vergessen. Auf dem Golfkurs in Guyancourt im Südwesten von Paris war die 25 Jahre alte Hamburgerin am Samstag mit fünf Schlägen Rückstand auf den Bronze-Rang auf die letzten 18 Löcher gegangen. Am Ende stand Henseleit dank einer famosen 66er-Runde mit Silber um den Hals auf dem Siegerpodest. Nervenstärke und Kampfgeist zeichnete Deutschlands erste Medaillengewinnerin im Golf aus: „Ich wusste am Anfang des Tages, dass ich etwas Besonderes machen muss, um am Ende die Medaille zu tragen.“
Und dann das traumhafte Erlebnis für Alexandra Burghardt in Saint-Denis. Mit Lisa Mayer, Gina Lückenkemper und Rebekka Haase war die Burghausenerin über 4 x 100 Meter zu Bronze gesprintet. Nichts weniger als eine Sensation, auch wenn es sich dabei um das Europameisterinnen-Quartett von München 2022 handelte. „Wir sind alle um unser Leben gerannt“, sagte Lückenkemper. Für Alexandra Burghardt war es ein Coup: 2022 hatte die 30-Jährige bei den Winterspielen in Peking als Anschieberin von Mariama Jamanka Bob-Silber gewonnen, nun gab es die Medaille bei der Sommer-Edition. „Das war jetzt nicht primär das Ziel“, sagte sie, „aber es ist einfach fantastisch.“
Olympia 2024: Italien überholt Deutschland noch im Medaillenspiegel
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Ein volles Podest der Überraschungsmedaillen, das zum Ende der faszinierenden Paris-Spiele aus deutscher Sicht neben den abschließenden Silbermedaillen für die Handballer und die Bahnrad-Sprinterin Lea Sophie Friedrich im Gedächtnis haften bleibt. Die deutsche Delegation, die immerhin 470 Athletinnen und Athleten umfasste, reist allerdings mit gemischten Gefühlen zurück in die Heimat. In 329 Wettbewerben in Paris wurde zwölfmal die Nationalhymne für den Olympiasieg gespielt, hinzu kamen dreizehn Silber- und acht Bronzemedaillen. Am letzten Tag zog Italien im Medaillenspiegel noch vorbei, sonst wäre es der angestrebte neunte Platz geworden. „Alle werden zufrieden sein“, urteilte Thomas Weikert, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Chef de Mission Olaf Tabert erkannte aber: „Wir sind mit einem anderen Ziel in diese Spiele gestartet.“
33 Mal Edelmetall – das liegt noch mal unter den 37 Medaillen von Tokio 2021, die als dürftigste Gesamtausbeute seit der deutschen Wiedervereinigung gelten. „Insofern setzt sich unsere Negativserie fort“, erklärte Olaf Tabor. Das Team Deutschland ist weiterhin dazu in der Lage, Goldmedaillen überreicht zu bekommen – in der Summe wird es aber weniger Edelmetall.
Olympia 2024: Chef de Mission schaut nicht nur auf Medaillen
Dabei gab es die Erfolgsgeschichten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Im Gold-Abo der Dressur-Mannschaft mit der Rheinbergerin Isabell Werth als nun erfolgreichster Athletin der deutschen Olympia-Historie. Im Springreiten mit Christian Kukuks erstem Einzel-Gold seit 1996. Im Triathlon mit der Mixed-Staffel. In der Rhythmischen Sportgymnastik mit Darja Varfolomeev. Im Kanu mit dem Vierer- und Zweierkajak, die verlässlich ablieferten. Im Schwimmen durch Lukas Märtens. Vor allem im 3x3-Basketball mit dem Sensations-Gold. So manche Favoritenrolle führte aber doch nicht zum erhofften Gold. Wie bei den Teamsprinterinnen im Bahnrad-Velodrome und bei Weitspringerin Malaika Mihambo – wobei deren Silber aufgrund des Gesundheitszustandes noch als Riesenerfolg gewertet werden muss. Aber erstmals seit 2008 verpasste der Achter, eines der letzten Symbole für die einstige Sportmacht Deutschland, das Siegerpodest.
Nun sind Gold, Silber und Bronze nicht alles, was glänzt. „Ich bin kein großer Freund davon, auf den Medaillenspiegel zu starren und daran festzumachen, wie gut oder schlecht es um den deutschen Leistungssport bestellt ist“, erklärte Tabor und verwies auf eine hohe zweistellige Anzahl von vierten bis achten Plätzen, „unmittelbare Weltklasseleistungen“ laut dem 53-Jährigen. Oftmals entscheidet ein Wimpernschlag über riesige Freude und grenzenloser Enttäuschung. Aber der Konjunktiv ist der größte Gegner des Gewinnens, deswegen wurde in Paris viel über die Sportförderung diskutiert, wie viel Geld nötig ist und wie es eingesetzt wird. Das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium lagert deshalb künftig die Spitzensportsteuerung in eine unabhängige Agentur aus, die mit allen Freiheiten, Kompetenzen und Kreativität über die Geldvergabe entscheidet. Tabor: „Wir sind nicht nur gewillt für größere Veränderungen, wir halten sie auch für notwendig. Das ist ein mittelfristiger Prozess – hoffentlich kein Marathon.“ Perspektivisch wünsche man sich, wieder in die Top Fünf vorzustoßen.
Nationen vor Deutschland im Medaillenspiegel hatten Olympia oder bekommen die Spiele
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Vor Deutschland liegen im Medaillenspiegel von Paris allerhand Nationen, in denen „große Investitionen getätigt werden in Sportinfrastruktur, in Personal, Trainerinnen und Trainer“, so der Chef de Mission. Und in denen zuletzt Olympische Spiele ausgetragen wurden oder bald werden. Frankreich hat seine Ausbeute gegenüber Tokio verdoppelt. So eine Vergabe beschleunigt Prozesse, setzt Mittel frei. Der Bund entschied während der Spiele, einen achten Bewerbungsanlauf des DOSB zu unterstützen, seitdem München vor 52 Jahren zuletzt Gastgeber gewesen war. Der Essener Kanu-Olympiasieger Max Rendschmidt forderte mehr Unterstützung im Zeitraum zwischen den Spielen und schoss gegen Olaf Scholz: „Die Liebe zum Sport wird immer dann entdeckt, wenn es Medaillen gibt.“ Der Bundeskanzler erklärte bei seinem zweiten Besuch, Paris sei „eine große Inspiration“ gewesen.
Ob Deutschland Erfolg haben wird bei der Vergabe der Sommerspiele 2040, hängt aber nicht davon ab, ob man in Berlin die eigene Bewerbung gut findet. Darüber wird in Lausanne entschieden – und da gelten immer noch andere Spielregeln.