Berlin. Die Niederlande feiern das erste EM-Halbfinale seit 20 Jahren. Doch ein großes Problem schmälert die Chance auf den Titel erheblich.
Im Moment des größten Erfolges einer niederländischen Nationalmannschaft bei einer Fußball-Europameisterschaft seit 20 Jahren erlaubte sich Ronald Koeman einen Blick in die Zukunft. Wen er denn im Endspiel am Sonntag im Berliner Olympiastadion (21 Uhr, ARD) lieber als Gegner hätte, wurde der Trainer gefragt. Erst müsse man das Halbfinale gewinnen, „aber wenn wir im Finale spielen sollten, ist meine persönliche Präferenz Spanien, weil wir Frankreich schon in der Gruppe hatten“, sagte Koeman.
Es zählt ohne Zweifel zur DNA bei „Oranje“, ein zuweilen schon übertriebenes Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Doch wo andere Coaches – zumindest öffentlich – sich gegen eine solche Frage wehren würden, erlaubt sich der Europameister von 1988, schon über das Halbfinale gegen England am Mittwoch in Dortmund (21 Uhr, ARD) hinwegzuschauen. Dabei gibt es ausreichend Anlass, sich vor allem mit den eigenen Auftritten zu beschäftigen.
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Wenn Stefan de Vrij, der Schütze des Ausgleichstreffers im Viertelfinale gegen die Türkei (2:1), sagt, man wüsste jetzt, „wie wir zusammen leiden können“, dann lässt das tief blicken. Selbst Koeman erklärte: „Für die ganze Nation ist das etwas Besonderes. Wir spielen mit Spanien, Frankreich und England im Halbfinale einer Europameisterschaft. Aber heute Abend mussten wir leiden.“
Die meisten Gegentore aller Halbfinalisten
Niederländische Mannschaften haben sich immer durch ihre enorme Qualität in der Offensive ausgezeichnet. Genannt seien nur Spieler wie Marco van Basten, Ruud Gullit, Dennis Bergkamp oder auch Arjen Robben und Robin van Persie. Doch die Achillesferse ist und bleibt die Defensive. Das wurde auch bei dieser EM deutlich und könnte den Niederländern selbst gegen in der Vorwärtsbewegung bislang biedere Briten zum Verhängnis werden.
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Es kommt nicht von ungefähr, dass die Niederländer mit fünf Gegentoren die meisten Gegentreffer der vier Halbfinalisten aufweisen. England kassierte drei, die Spanier zwei und Frankreich gar nur ein Gegentor in den bisherigen fünf Turnierspielen. Auch bei Ball-Rückeroberungen sind die Niederlande (154) Schlusslicht (Spanien 230, England 201, Frankreich 200). Geht es nach der alten Fußball-Weisheit, dass die Offensive Spiele gewinnt, die Defensive jedoch Titel, dann geht „Oranje“ auch bei diesem Turnier wieder leer aus.
Nicht nur im Viertelfinale gegen aufopferungsvoll kämpfende Türken, schon im Gruppenfinale gegen Österreich (2:3) zeigte sich überdeutlich, wie anfällig die Defensive des Koeman-Teams ist. Nur schwer kamen die Niederlande mit dem hohen Pressing der Österreicher klar. Dass sich eine Elftal nun eine Runde weiterkämpfen musste, entspricht kaum dem eigenen Selbstverständnis.
Zuordnungsprobleme bei Standards
„In gefährlichen Momenten haben wir den Ball verloren“, bilanzierte nun Kapitän Virgil van Dijk vor allem eine erste Halbzeit, in der den Niederländern die Ideen fehlten, um den türkischen Abwehrverbund wirklich in Verlegenheit zu bringen. Die zunehmende Passivität wurde mit dem Rückstand bestraft.
Beim Eckball durch Hakan Calhanoglu und der Kopfball-Abwehr von van Dijk darf Arda Güler seelenruhig flanken. In der Mitte ist Torwart Bart Verbruggen völlig orientierungslos, zudem schläft Denzel Dumfries beim Herauslaufen und hebt das Abseits auf, sodass Samet Akaydin entspannt einköpfen konnte.
„Natürlich muss man auch kritisch damit umgehen“, wollte Koeman trotz aller Beschwörungen, dass seine Mannschaft „eine großartige Leistung und ein großes Herz“ gezeigt habe, die offensichtliche Schwachstelle in seiner Mannschaft nicht kleinreden. Zumal die Niederländer in der Schlussphase nur mit Mühe und Not einer Verlängerung entkommen sind.
Plötzlich rücken auch die Fans ins Bewusstsein der Spieler
Auch wenn die letzten Angriffsbemühungen der Türken voller Verzweiflung und damit auch ein wenig kopflos waren – in der Abwehr der Niederländer brannte es lichterloh. Vier Riesenchancen fanden ihr Ziel nicht, auch wegen überhasteten Abschlusses. Und bei Nummer fünf brauchte es einen Riesenreflex von Verbruggen, um das 2:2 zu verhindern.
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Und plötzlich rücken auch die vor den Partien so stimmungsvollen Fans ins Bewusstsein der Spieler. Noch vor dem Österreich-Spiel hatte de Vrij wissen lassen: „Wir sind nicht auf die Fans fokussiert. Wir fokussieren uns nur auf unser Spiel und nicht darauf, was die Leute in der Heimat denken.“ Nach dem Halbfinal-Einzug gestand der Innenverteidiger: „Die Fans sind sehr wichtig für uns, nicht nur die im Stadion. Wir sehen viele Bilder und Videos von den Fans in Holland.“
Am Mittwoch gegen England werden de Vrij und seine Teamkollegen jede Unterstützung brauchen können, damit der Final-Traum nicht schon in Dortmund endet,