Rom. Deutschland wartet bei der Leichtathletik-EM in Rom weiter auf das erste Gold. Italien aber jubelt und macht vor, wie man erfolgreich fördert.
Es gibt etwas, das ein Showmensch so gar nicht mag: unbemerkt zu bleiben. Gianmarco Tamberi ist da keine Ausnahme. Der 32 Jahre alte Hochsprung-Star liebt die große Inszenierung - und Italien liebt ihn. Der Olympiasieger und Weltmeister ist ein Volksheld – und ein verdammt guter Entertainer. Bei der Leichtathletik-EM in Rom ergaben der Mann mit dem zur Hälfte abrasierten Bart und das frenetische Publikum eine perfekte Symbiose. Mit Ausnahme in einer kurzen Phase der Unachtsamkeit.
Wie bei Leichtathletik-Meisterschaften üblich, wurden zeitgleich zum Hochsprung auch noch andere Wettkämpfe im Stadio Olimpico ausgetragen. Unter anderem rannten die Stars Karsten Warholm (Norwegen) und Femke Bol (Niederlande) spektakulär mit Meisterschaftsrekord zu den Titeln über 400 Meter Hürden. Im Dreisprung kam es zu einer Schlacht, in der erstmals zwei Athleten in einem EM-Finale die magische 18-Meter-Marke knackten. Umjubelter Sieger des Duells mit Titelverteidiger Pedro Pichardo (Portugal) war der Spanier Jordan Alejandro Diaz Fortun. Und dann war da noch die Italienerin Nadia Battocletti, die sich nach dem Titel über 5000 Meter auch den über die 10.000 Meter sicherte. Unter ohrenbetäubendem Jubel der italienischen Fans.
Sind das Sprungfedern? Hochsprung-Star Tamberi liefert irre Show
Plötzlich musste sich Tamberi die Aufmerksamkeit teilen und dann auch noch immer wieder den Läuferinnen Platz machen. Zweimal riss er in dieser Zeit die Latte. Erst als das Publikum wieder ganz ihm gehörte, schaffte er den erlösenden Sprung. Von nun an spielte er Pingpong mit seiner und der Energie des Publikums. Zwischendurch machte er ein paar Mätzchen, simulierte eine Verletzung, um dann Sprungfedern aus seinen Schuhen zu ziehen, ehe er ununterbrochen mit sich selbst redete. Er braucht diesen Modus, diese Show. Er liefert Topleistung und beste, nein, irre Unterhaltung. Als er längst als Europameister feststand, übersprang er noch fluffig 2,37 Meter. Ekstase auf den Rängen, in der ein Fan in den Innenraum purzelte und just von Tamberi geherzt wurde. Im Fußball hätten sie nun wohl ein ganzes Silvesterfeuerwerk im Block abgebrannt. So fackelten nur die Emotionen.
„Ich wusste, dass ich in außergewöhnlicher Form bin“, sagte Tamberi tief in der Nacht. „Ich habe bei 2,29 Metern etwas gewackelt, aber dann hat die Show begonnen. Ich habe großartige Dinge getan: Jetzt ist es Zeit für Olympia.“
Italiens Erfolg bei der Leichtathletik-EM: mehr als nur der Heim-Vorteil
Es war ein großer italienischer Abend. Vor den Augen von Staatspräsident Sergio Mattarella gewann auch noch Alessandro Sibilio Silber über 400 Meter Hürden. Mit 20 Medaillen, zehn davon in Gold, lag das Gastgeberland vor dem Abschlussabend auch klar an der Spitze des Medaillenspiegels. Natürlich war das auch Motivation für Tamberi: „Ich wollte nicht von meinen Teamkollegen, die hier Großartiges geleistet haben, übertroffen werden – deshalb habe ich geliefert.“
Doch es steckt mehr als nur ein Heimvorteil hinter dem Erfolg. „Italien zeigt gerade, was man mit guter Förderung erreichen kann. Sie sind unglaublich stark – in fast allen Disziplinen“, sagt Jürgen Hingsen, der 1984 in Los Angeles Olympiasilber im Zehnkampf gewann.
Italien krempelt System auf links, Deutschland verschenkt Potenzial
Die Leistungen sind keine Zufälle, keine von der Stimmung getragene Ausrutscher nach oben, sondern sie haben System. In Rom wird gerade sichtbar, woran seit Jahren intensiv und auch kompromisslos getüftelt wird. Der ehemalige Mittelstreckenläufer und heutige Verbandspräsident Stefan Mei hat mit einem umfangreichen Reformprogramm Strukturen etabliert, die es Athleten ermöglichen, sich auch jenseits von Behörden und Militär voll auf den Leistungssport konzentrieren zu können. Auch im Bereich der Trainerausbildung habe man „eines der besten Systeme weltweit installiert“, sagte Fausto Narducci, Herausgeber des Magazins Atletica und ehemaliger Chefredakteur der italienischen Sportzeitung Gazzetta dello Sport, bei Sport 1.
Italien also als Vorbild für den taumelnden Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV)? Jürgen Hingsen findet: „Ja, Italien macht Deutschland vor, wie gute Förderung aussehen kann. Das ist ein hochprofessioneller Ansatz, der aber notwendig ist, um heutzutage erfolgreich zu sein.“ Einen Tag vor dem Abschlussabend wartete der DLV noch immer auf die erste Goldmedaille dieser EM. „Wenn vernünftig gefördert würde, dann würden auch die Leistungen besser aussehen“, sagt Hingsen. „Auch in Deutschland hätten wir mit der Sporthochschule Köln die perfekten Voraussetzungen, um Training und Wissenschaft zu verbinden, aber es gibt einfach kein System. Da verschenken wir Potenzial.“