Rom. Zehnkampf-Legende Jürgen Hingsen blickt nach Kaul-Auftritt optimistisch auf Olympia. Er sieht Leo Neugebauer als Favorit und übt Systemkritik.
Jürgen Hingsen hat genau hingeschaut, als am Dienstag Europas König der Athleten gekürt wurde. Zwar verpasste Titelverteidiger Niklas Kaul bei der Leichtathletik-EM in Rom knapp eine Medaille, die 66 Jahre alte Zehnkampf-Legende sieht dennoch gute Chancen für Deutschland für die Olympischen Spiele in Paris. Auch weil Leo Neugebauer, der Hingsen als deutschen Rekordhalter abgelöst und sich zuletzt der magischen Marke von 9000 Punkten angenähert hatte, dort miteingreifen wird.
Herr Hingsen, wie haben Sie den Wettkampf der Zehnkämpfer bei der Leichtathletik-EM in Rom erlebt?
Jürgen Hingsen: Aus deutscher Sicht ist es zunächst einmal gut, dass alle vier Starter durchgekommen sind – das ist auch nicht selbstverständlich. Insgesamt können wir durchaus zufrieden sein.
Wie beurteilen Sie die Leistung von Niklas Kaul, der als Titelverteidiger Vierter wurde?
Man hat natürlich gemerkt, dass er am Ende platt war. Er kann die 1500 Meter deutlich schneller laufen. Aber wenn er sagt, das sei vielleicht sein bester schlechtester Zehnkampf gewesen, dann kann ich trotzdem nur sagen: Chapeau!
Macht das Hoffnung für Paris?
Auf jeden Fall. Leo Neugebauer wird aber noch ein größerer Faktor. Er hat ein Riesenpotenzial, er bewegt sich gerade in einer eigenen Liga. Es kann aber immer was passieren, da ist es gut, wenn man in Niklas Kaul noch einen zweiten starken Zehnkämpfer mit viel Erfahrung dabei hat.
Jürgen Hingsen: Leo Neugebauer ist Olympia-Favorit
Leo Neugebauer hat bei der College-Meisterschaft in den USA seinen eigenen deutschen Rekord auf 8961 Punkte geschraubt, vergangenes Jahr hatte er Sie als Rekordhalter abgelöst. Kann er die deutsche Leichtathletik wieder nach vorne bringen?
Das macht er bereits: durch seine Leistung und seine Ausstrahlungskraft. Deutschland hatte in der Vergangenheit immer gute Zehnkämpfer, es ist schön, dass diese Tradition fortgeführt wird.
Was ist für ihn in Paris möglich?
Neugebauer ist bei Olympia ein Favorit. Ich glaube, dass er eine Medaille gewinnt, ob es Gold wird, muss man sehen. Es kann immer was schief gehen. Wichtig ist es, dass er jetzt seinen 110-Kilo-Körper gesund hält und sich mental gut auf die Spiele einstellt. Bei der WM in Budapest hatte er vergangenes Jahr auch einen Wackler, den hat er aber gut überwunden. Trotzdem ist die Olympia-Atmosphäre etwas ganz anderes, damit muss er umgehen. Auch wenn andere straucheln, muss er da sein. Aber auch Niklas Kaul traue ich einiges zu.
Also zwei Olympia-Medaillen für Deutschland?
Das wäre natürlich ein Traum – aber davon gehen wir mal eher nicht aus. Für die deutsche Leichtathletik wäre es ein tolles Ausrufezeichen. Das können wir gut gebrauchen.
Deutschland hat ein Systemproblem, Italien kann Vorbild sein
Wie beurteilen Sie, dass Leo Neugebauer in den USA geformt wird – ist das ein Problem?
Für ihn nicht. Er hat die Belastung mit zwei Siebenkämpfen und jetzt der Meisterschaft gut und mit stabilen Leistungen verpackt. Das muss man auch erstmal durchhalten. Er profitiert dort von dem System. Das ist aber sicher nicht für jeden was. Da fließt sehr viel Geld, das erhöht natürlich den Druck, auch Leistung bringen zu müssen. 250 Millionen US-Dollar hat die Universität in Texas für ihre Sportteams zur Verfügung – das ist mehr als der gesamte Sport in Deutschland bekommt. Das kann natürlich auch die deutsche Sporthilfe nicht auffangen, die Situation ist eine ganz andere als noch bei uns vor 30 bis 40 Jahren. Um heute erfolgreich zu sein, musst du bei Wissenschaft und Technik top aufgestellt sein.
Was bedeutet das für den Deutschen Leichtathletik-Verband?
Die EM-Ergebnisse zeigen es: Wenn vernünftig gefördert würde, dann wären auch die Leistungen besser. Italien zeigt ja gerade, was man mit guter Förderung erreichen kann. Sie sind unglaublich stark – in fast allen Disziplinen.
Dient der EM-Gastgeber als Vorbild?
Ja, Italien macht Deutschland vor, wie gute Förderung aussehen kann. Die Sportler können sich komplett auf den Sport konzentrieren, haben Zugriff auf Trainingswissenschaft und ideale Ausstattungen. Das ist ein hochprofessioneller Ansatz, der aber notwendig ist, um heutzutage erfolgreich zu sein. Vor einigen Jahren waren es die Engländer, die es genauso gemacht haben – da waren die Olympischen Spiele in London natürlich ein zusätzlicher Antrieb. Auch in Deutschland hätten wir mit der Sporthochschule Köln die perfekten Voraussetzungen, um Training und Wissenschaft zu verbinden, aber es gibt einfach kein System. Da verschenken wir Potenzial.