London/Essen. Bernd Leno, Torwart des FC Fulham, spricht über Fußball an Weihnachten, Nachholbedarf der Bundesliga und die Europameisterschaft.
Einige Tage vor dem Weihnachtsfest wirkt Bernd Leno (31) am Telefon entspannt. Zwei trainingsfreie Tage am Stück durfte er noch mal genießen. Nun aber steht für den Torwart des FC Fulham die stressigste Zeit des Fußball-Jahres rund um den Boxing Day an.
Herr Leno, Weihnachten assoziiere ich erstmal nicht mit Fußball.
Bernd Leno: Das kann ich verstehen, das war bei mir früher nicht anders. Für uns in Deutschland klingt das erst mal merkwürdig, weil die Bundesliga dann ja in der Winterpause ist. In England aber ist Fußball an Weihnachten, also am Boxing Day, dem 26. Dezember, eine Riesennummer.
Können Sie das genauer beschreiben?
Der Boxing Day ist für die Engländer wie Ostern, Weihnachten, Silvester und Thanksgiving zusammen. Es ist der beste Tag des Jahres. Weihnachten wird in England am 25. Dezember gefeiert, abends gibt es also eine Menge zu essen und vor allem zu trinken. Und am nächsten Tag ist dann halt Fußball, Fußball, Fußball. Von morgens bis abends. Die Stadien sind voll. Fußball am Boxing Day hat hier eine Riesentradition.
Würden Sie nicht die gemütliche Couch im warmen Wohnzimmer dem kalten Stadion vorziehen?
In den ersten Jahren nach meinem Wechsel in die Premier League 2018 fand ich es zunächst auch komisch, weil du ja nicht nur am 26. Dezember spielst, sondern auch an Heiligabend und am ersten Weihnachtstag trainierst. Klar, so eine Winterpause ist schon entspannt. Andererseits feiere ich auch den Boxing Day und das ganze Drumherum. Und: Die Leute sitzen zwischen den Feiertagen meist eh zu Hause rum. Was gibt es da besseres als Fußball zu schauen?
Wie feiern Sie Weihnachten?
Meine Familie kommt nach London. Wir haben die deutsche Tradition beibehalten, an Heiligabend gemeinsam zu essen. Uns geht es dabei eher vor allem ums Zusammenkommen, ein wenig die weihnachtliche Atmosphäre zu genießen, Geschenke zu verteilen. Wenn man im Ausland spielt, wertschätzt man die gemeinsame Zeit noch viel mehr. Natürlich muss man schon ein bisschen dran denken: In zwei Tagen spielst du wieder, also musst du dich ein wenig zurückhalten.
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Also besser einen Knödel weniger essen?
Ich habe eher an ein Getränk weniger gedacht (lacht). Spaß beiseite: Man gewöhnt sich recht schnell an diesen besonderen Rhythmus.
Wie handhaben es Ihre englischen Mitspieler, bei denen der erste Weihnachtstag wichtiger ist? Oder die aus Südamerika, deren Familien eine weite Anreise haben?
Unsere Trainer kommen uns da schon sehr entgegen, da kommt die Menschlichkeit definitiv nicht zu kurz. Wir spielen beispielsweise am 26. Dezember in Bournemouth, müssen also einen Tag vorher anreisen. Dann regeln wir es aber so, dass die Abfahrt erst sehr spät ist, sodass die Jungs wenigstens noch den Tag mit ihren Familien verbringen können.
Die Belastung ist im englischen Fußball gerade über die Feiertage hoch. Gibt es denn mal Zeit für Besinnlichkeit? Ein nettes Abendessen mit der Mannschaft?
Das mussten wir in die letzte Europapokal-Woche des Jahres vorziehen. Anschließend geht es ja Schlag auf Schlag. Nach Silvester haben wir dann aber auch mal vier, fünf Tage Ruhe.
Müssen Sie um Verständnis bei Ihrer Familie kämpfen?
Nein. Meine Familie und auch meine Freunde kennen es ja nicht anders. Als ich in der Jugend gespielt habe und die Jungs Samstagabend Feiern gegangen sind, bin ich eben nach Hause, weil ich am nächsten Morgen ein Spiel hatte. Die waren im Club, ich habe noch ein wenig Playstation gespielt und bin früh schlafen gegangen. Inzwischen ist Fußball mein Beruf, da gehört das einfach dazu.
Dabei geht es natürlich um Geld. Die Premier League hat ihren Boxing Day, den sie vermarktet. In der Football-Liga NFL sind die Thanksgiving-Spiele am wichtigsten für die TV-Erlöse. In der NBA wird am Christmas Day Basketball gespielt. Wäre es nicht auch konsequent, wenn die Bundesliga einen Sonderspieltag einführt? Vielleicht der Tag der Deutschen Einheit? Auch wenn das sicherlich problematisch aufgrund des Europapokal-Spielplans sein dürfte.
Absolut. Ich habe das Gefühl, in England ist der Fußball in Sachen Vermarktung, Digitalisierung und der Art und Weise, wie das Produkt im Ausland verkauft wird, gefühlt zehn Jahre voraus. Klar, das ist teilweise auch mit Anstrengungen verbunden. Wir reisen beispielsweise jedes Jahr nach Amerika. Fulham hat nicht wie Manchester United oder der FC Liverpool weltweit Millionen Fans. Die Premier League aber pusht uns. Und ich meine, dass die Bundesliga, um nicht vor allem finanziell noch weiter abgehängt zu werden, zukünftig unbedingt mal aus ihrer Blase raus muss. In Deutschland ist die Bundesliga präsent, im Ausland aber noch nicht so wirklich. Wenn du hier jemanden bittest, Spieler von Borussia Dortmund aufzuzählen, nennt derjenige wohl sicherlich Marco Reus und muss dann aber erst mal ein paar Minuten überlegen.
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Was wäre ein Ansatz Ihrer Meinung nach?
Die Relegation ist zum Beispiel spannend. Auch die Montagsspiele, die wieder abgeschafft worden sind, waren meiner Meinung nach eine gute Idee. Ich kann die Kritik der Fans daran aber verstehen. Vielleicht ist ja ein Kompromiss möglich, wie man offener für solche Dinge werden kann, um langfristig nicht auch noch von Italien oder Spanien abgehängt zu werden.
Zurück nach England. Sie spielen Ihre zweite Saison in Fulham. Der Klub arbeitet daran, sich in der Premier League zu etablieren. Sind Sie zufrieden?
Auf jeden Fall. In der vergangenen Saison haben wir beinahe den Vereins-Punkterekord gebrochen und sind nun dabei, uns im Mittelfeld festzusetzen, nachdem Fulham in den Jahren zuvor eine klassische Fahrstuhl-Mannschaft war. Die Art und Weise, wie wir inzwischen Punkte holen, ist ganz anders geworden. Wir sind ein erfahrenes Team, das gut zusammengestellt ist, haben eine positive Energie. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Wie stehen Ihre Chancen, an der Europameisterschaft im kommenden Sommer teilzunehmen?
Das kann ich nicht beurteilen, aber es ist sicherlich so, dass die deutschen Profis im Ausland nicht mehr unter dem Radar laufen. Die Premier League ist mit Abstand die beste Liga der Welt, ich messe mich jede Woche mit den Top-Teams. Und es ist auch nicht so, dass ich in Saudi-Arabien oder China spiele, wo man dann vielleicht schon auch mal etwas von der Bildfläche verschwindet.
Ihren Vertrag haben Sie vor einigen Tagen bis 2027 verlängert, London bleibt mittelfristig Ihre Heimat…
…und darüber freue ich mich sehr. London ist eine Hammerstadt, natürlich in gewisser Art und Weise auch mal stressig, aber es gibt wahnsinnig viele Möglichkeiten, seine Freizeit hier zu verbringen. Was mir auch gefällt, ist, dass man wie überall im Ausland sehr anonym unterwegs ist. Ab und zu erkennen dich Leute, weil jeder hier natürlich auch Fußball schaut. Allerdings lassen sie dich in Ruhe, du kannst auch mal ein Bierchen trinken gehen. Ich fühle mich sehr, sehr wohl – auf dieses Berühmtsein und das ganze Drumherum habe ich nicht so Bock (lacht).
Und Fulham als Arbeitgeber?
Ein Verein mit Riesenhistorie! Das fängt beim Stadion mit der denkmalgeschützten Tribüne und den Backstein-Wänden an. Ich mag dieses Flair, es ist modern, aber nicht zu kommerziell. Man spürt die Geschichte, die der Klub als ältester in London auch Tag für Tag lebt.
Können Sie sich eine Rückkehr in Bundesliga vorstellen?
Ausschließen würde ich es auf keinen Fall, aber demnächst wird das sicher nicht passieren. Ich verfolge natürlich auch die Bundesliga noch intensiv, ehrlicherweise muss ich auch sagen, dass dort die besten Stadien in Europa sind.
Schauen Sie besonders auf Ihre Ex-Vereine Bayer Leverkusen und den VfB Stuttgart, wo Sie ausgebildet worden sind?
Ich finde mega, was bei beiden gerade passiert. Der VfB ist mit der Stadt und seiner Struktur sicherlich ein Verein, der ins europäische Geschäft gehört. Wenn Sie weiterhin gute Transfers tätigen und der Trainer bleibt, bin ich mir sicher, dass sie auch in dieser Tabellen-Region bleiben werden. Leverkusen wird so eine Chance, vor allem den Pokal zu holen, so schnell vermutlich nicht wieder bekommen. Ich hoffe, dass sie die ganze Saison konstant durchspielen. Bis zum Meistertitel ist es ein sehr weiter Weg, aber der ist nicht unmöglich. Ich würde es den Fans wirklich gönnen: Dann hört auch endlich mal das Vizekusen-Gelaber auf.