Hagen. Der berühmte Schauspieler aus Hagen wird im Roman „Vaterländer“ auch autobiographisch. Ist das spannend? Wir haben das Buch gelesen.
Ein kleiner Junge spielt im Foyer eines Konzertsaales Fußball mit einem älteren Herrn, während seine Eltern drinnen mit dem Orchester proben. Der Mann entpuppt sich als Yehudi Menuhin, damals Chefdirigent der Philharmonia Hungarica und weltberühmter Geiger; der Junge ist Sabin Tambrea, heute einer der bekanntesten und gefragtesten Schauspieler im Land. Von dieser Episode an könnte das Buch „Vaterländer“ eine himmelhoch aufsteigende Erfolgsgeschichte mit vielen Anekdoten über berühmte Künstler sein. Doch Sabin Tambrea erzählt in seinem zweiten Roman etwas anderes: Die Geschichte der Flucht seiner Familie aus dem kommunistisch regierten Rumänien mit allen Gewissensqualen, Heimweh und sehr vielen Sorgen. Eine Heimat statt der Vaterländer findet die Familie erst im Theater Hagen. Dabei spielt ein Mann eine Rolle, der heute sehr fehlt: Der Sänger, Regisseur und Theaterleiter Werner Hahn (1956-2021).
„Mein Vater und meine Mutter sind die größten Helden, die ich je kennengelernt habe.“
„Mein Vater und meine Mutter sind die größten Helden, die ich je kennengelernt habe, weil sie die Flucht aus Rumänien gewagt haben, damit ihre Kinder eine bessere Zukunft haben“, hat Sabin Tambrea einmal im Gespräch mit unserer Redaktion bekannt. Bela Tambrea, Geiger, entschloss sich im Jahr 1985, von einer Konzertreise nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Sabin Tambrea ist als Sohn Betroffener dieser Geschichte. Als Autor seiner Roman-Familienbiographie versucht er gleichzeitig, mit der Distanz des Schriftstellers zu erforschen, was dieser Schritt bedeutet. Die nackte Angst des Vaters, das Richtige zu tun, die Verzweiflung der mit zwei kleinen Kindern zurückgelassenen Ehefrau, ebenfalls Geigerin, die nicht nur von den Kollegen im Orchester für den Vaterlandsverrat ihres Mannes schikaniert wird, sondern auch den Rückhalt von dessen Familie – stramme Kommunisten – verliert.
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Die mütterlichen Großeltern der Kinder blicken differenzierter auf die Entscheidung Belas, ihres Schwiegersohns. Denn Großvater Horea Sava ist selbst Opfer des Systems; zweieinhalb Jahre lang wurde er ohne rechtsstaatlichen Prozess vom kommunistischen Geheimdienst inhaftiert und gefoltert; ein früherer Schulkamerad hatte eine Widerstandsorganisation gegründet, die Tatsache allein reichte aus. Diese Willkürerfahrung und das erlittene Unrecht brachten Horea Sava dazu, seine Memoiren zu schreiben – wie viele seiner Altersgenossen. Lebenslang trug er das Stigma des politischen Gefangenen, die Henkersknechte aber wurden nach der Revolution von 1989 kaum zur Rechenschaft gezogen.
Vaterländer: Das Private ist politisch
Sabin Tambrea verschachtelt seine Erzählung kunstvoll, denn der Titel „Vaterländer“ spielt nicht nur auf die multinationalen Wurzeln der Protagonisten an; neben rumänisch sind diese ungarisch und deutsch; hinzu kommt der vorgebliche Vaterlandsverrat durch die Flucht. Der Roman legt vor allem offen, wie politisch das Private ist. Im Zentrum steht die romantische Liebesgeschichte zwischen Bela und Rodica, die schon in der Schule miteinander um die besten Leistungen rivalisieren, die beide Geige studieren, und die einander so zart und poetisch umwerben, dass es herzberührend ist. Bela und Rodica hoffen trotz der schlechten Zeiten auf die Zukunft, sie heiraten und gründen eine Familie. Nach der Geburt der ältesten Tochter wohnt man zunächst notgedrungen bei Rodicas Eltern auf zwei Zimmern, zusammen mit ihrer Schwester, dem Schwager und deren beiden kleinen Kindern.
Die Flucht und die Panik
Die zunehmenden wirtschaftlichen Probleme und die wachsenden Schikanen gegenüber der Bevölkerung zermürben die jungen Eltern. Doch es ist nur Bela, der die Hoffnungslosigkeit der Situation weiterdenkt und zu dem Schluss kommt, dass die Zukunft woanders liegt. Er weiß, was seine Familie nach seiner Flucht an Schikanen erleiden wird. Er weiß und fürchtet sich davor, wichtige Momente beim Aufwachsen seiner Kinder zu verpassen. Trotzdem entschließt er sich. Rodica hingegen ist zerrissen vor der Sorge, in einem fremden Land neu anfangen zu müssen, ohne Eltern und Unterstützung, dazu die Eltern allein zurückzulassen. Zwei Jahre später darf sie mit den Kindern ihrem Mann nachreisen, an der Zugfahrt zerbricht sie fast, zumal die Polizei an der Grenze auch noch ihr wichtigstes Arbeitsmittel konfisziert, ihre Violine und die ihrer Tochter. Diese, Alina, heute eine gefeierte Geigerin und Professorin, ist zu diesem Zeitpunkt erst acht Jahre alt, sie übernimmt die Verantwortung, damit die Familie die Reise nach Deutschland übersteht, sie muss viel zu früh viel zu erwachsen werden.
Sabin Tambrea wird sich beim Schreiben seines zweiten Romanes häufiger gefragt haben, ob die Erinnerungen seiner Familie und seine eigenen ein Buch tragen, ob sie private Vermächtnisse sind oder an die Öffentlichkeit gehören. Er hat sich für das große Publikum entschieden, aber ohne jeden moralisierenden Zeigefinger. Er berichtet einfach, wie es war. Denn Vertreibung, Migration und Flucht sind das Verhängnis unserer Epoche. Und die Suche nach einer guten Zukunft für seine Kinder ist ein Erbteil des Menschseins. Doch dazu gehört eben ein hoher Preis: die Gefahr, die Entwurzelung, die Schuldgefühle, das Heimweh.
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Während die Tochter in Deutschland wie besessen Geige übt und schon bald als Jungstudentin an der Musikhochschule angenommen wird, entwickelt sich der Sohn zu einem außergewöhnlich tollpatschigen Jungen, der wenig Neigung zur Musik zeigt, dafür aber von schrecklichen Alpträumen heimgesucht wird.
Dann kommt der Moment, wo die Mutter beim Philharmonischen Orchester Hagen erfolgreich um eine Stelle vorspielt, und der Junge wenige Wochen später seine Mama ins Theater Hagen begleitet und eine Vorstellung des Musicals „Carousel“ sehen darf. Danach winkt der Hauptdarsteller ihm zu, es ist der Publikumsliebling mit dem leicht österreichischen Akzent. „Diese Welt – ich wollte, dass sie meine wird.“ Der Junge hat seine Koordinaten gefunden; er tritt in den Kinderchor des Theaters ein, er trifft seinen besten Freund im Sohn des Publikumslieblings, der Werner Hahn heißt. Sabin kommt in der neuen Heimat an. Und dann: „Werner hatte mich gefragt, ob ich in einem Jugendtheater, das er im neuen Jahr gründen wollte, Teil des Schauspielensembles werden wollte.“ So begann es.
Sabin Tambrea: Vaterländer, Gutkind Verlag, 320 Seiten, 24 Euro.