Hagen. Es ist gar nicht das Letzte Abendmahl, sondern ein olympisches Bacchanal. Katholische Würdenträger erkannten das nicht und wüteten.
Ist es eine Verspottung christlicher Werte? Oder einfach nur ein schrilles Bild? Oder noch etwas ganz anderes? Konservative katholische Katholiken und Kirchenführer ereifern sich über eine Szene der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris. Angeblich sei dort Leonardo da Vincis Abendmahl mit Dragqueens und weiterem queerem Personal nachgestellt worden. Eine Verhöhnung des Christentums! Die Aufregung offenbart beispielhaft die tiefen Abgründe und Verwerfungen der Debattenkultur im Zeitalter einer allgegenwärtigen Erregung. Denn das Bild zeigt kein christliches Abendmahl, sondern ein olympisches Bacchanal als Erinnerung an die altgriechischen Wurzeln der Olympischen Spiele.
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Die schäumenden Reaktionen belegen: Erstens können viele Zeitgenossen, auch hohe katholische Würdenträger, nicht mehr mit Bildern umgehen, trotz der medialen Bilderflut. Zweitens kommen selbst Bischöfe nicht mehr auf die Idee, das, was sie sehen, zu hinterfragen, sondern setzen den flüchtigen optischen Eindruck sofort absolut. Und drittens werden die Emotionen, die so zutage treten, ungefiltert im weltweiten Netz mit anderen geteilt, um die Erregungsmaschinerie anzutreiben – oder vereinfacht ausgedrückt: um zu hetzen. In diesem Fall wurden queere Menschen zur Zielscheibe. Keiner dieser hochgelehrten Oberhirten stellte sich offenbar die naheliegende Frage: Was hat Da Vincis Abendmahl mit Olympia zu tun? Könnte es andere Bilder geben, die mehr mit Olympia zu tun haben, zum Beispiel solche vom Olymp?
Die Organisatoren der Eröffnungsfeier von Paris 2024 haben – natürlich - auch Frankreich gefeiert und die französische Geschichte und Kultur. Am Hofe der Könige gab es seit Ende des 18. Jahrhunderts eine besonders beliebte Unterhaltung. Lebende Bilder, Tableaux Vivants. Dabei wurden Gemälde von lebenden Personen nachgestellt. Besonders in Mode beim französischen Adel seit dem späten Mittelalter und der Renaissance: Gemälde, die Szenen aus der griechischen Mythologie schildern. Denn mit den heldenhaften Göttinnen und Göttern, ihren Tugenden und allzumenschlichen Schwächen wollte sich so mancher Herzog und so manche Hofdame gerne identifizieren – und die Herrschaften hatten auch das Geld, solche Gemälde in Auftrag zu geben. Besonders beliebte Motive: Bacchanale in unterschiedlichen Kulissen und die Festmähler der Götter auf dem Olymp. Olymp. Olympia. Jetzt könnte der Groschen fallen.
Es gibt überaus zahlreiche Darstellungen von Bacchanalen und Festmählern der Götter. Bei den Bacchanalen geht es noch etwas wilder zu als bei den Festmählern. Für Renaissance-Maler ist interessant, dass sie dabei nackte Körper darstellen können; der Begriff Renaissance bezieht sich ja auf die Wiederentdeckung der Antike. Dionysos, dem Gott des Weines, der Freude und des Theaters, kommt bei Festmählern und Bacchanalen besondere Bedeutung zu, er sorgt dafür, dass die Veranstaltungen nicht zu steif werden. Die Römer nannten diesen Gott Bacchus.
Im Weinland Frankreich spielt Dionysos bis heute eine große Rolle. Und ein anderer Dionysius ist sogar der Nationalheilige Frankreichs, Dionysius von Paris, der fränkische Urheilige, dem die Grablege der französischen Könige gewidmet ist, die Basilika-Kathedrale St. Denis nördlich von Paris, dem ersten Bauwerk der französischen Gotik überhaupt. Möglich, dass die Organisatoren der Eröffnungsfeier mit diesen vielfältigen Bezügen spielen wollten, als sie das lebende Bild mit Dionysos und seinem bunten Gefolge kreierten. Möglich aber auch, dass sie sich nur auf den Olymp und die Olympier konzentrierten, die ja der antiken Mythologie zufolge durchaus Charaktere waren, die in keine heutigen Schubladen passen wollten. Oft miteinander zerstritten, treffen sie sich beim Gastmahl der Götter und legen ihre Waffen ab. Wenn Künstler in ihren Gemälden das Gastmahl der Götter darstellen, spiegeln diese üppigen Zusammenkünfte die Sehnsucht nach Frieden, das ist ihr allegorischer Hintergrund.
Bahnbrechender Meilenstein
Ebenso wie das Göttermahl ist auch das Letzte Abendmahl erst in der Renaissance ein Motiv in der Kunst geworden, und zwar zunächst passenderweise in den Refektorien der italienischen Klöster. Der Begriff „Abendmahl“ stammt übrigens von Martin Luther. Obschon das gemeinsame Brechen des Brotes ein zentraler Aspekt der Zusammenkünfte der Urchristen war, passte diese Handlung später nicht ins hierarchische Denken der katholischen Kirche, wo in der Messe die Priester und die Laien durch die Lettner voneinander getrennt wurden. Auch Leonardo da Vinci schuf sein Abendmahl 1494 bis 1497 für ein Klosterrefektorium, das Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand. Das Letzte Abendmahl ist ein Wandbild, kein Gemälde. Zum bahnbrechenden Meilenstein der Kunstgeschichte wurde das Fresko wegen der korrekt wiedergegebenen Tiefenperspektive.
Im Laufe der Jahrhunderte ist Da Vincis Abendmahl mehrfach künstlerisch überformt worden, zum Beispiel, um auf die Situation von Künstlerinnen hinzuweisen. Noch viel häufiger aber wurde das Abendmahl kommerziell in Film, TV-Serien, Mode oder der Musikindustrie adaptiert und verfremdet.
Vergleicht man die Festmähler der Götter mit Abendmahl-Werken, so fallen verblüffende Ähnlichkeiten auf: Die lange Tafel, die Anordnung der Figuren. Im Gemälde „Le Festin des Dieuxs“, 1635 – 1640 gemalt von Jan Harmensz van Bijlert (Musee Magnin in Dijon), hat die Figur im Mittelpunkt der Tafel frappierende Ähnlichkeit mit vielen Jesusfiguren auf Abendmahlen: ein Jüngling im Strahlenkranz, umgeben von Feiernden und Freunden, von oben beobachten Putten das Spektakel. Es handelt sich um Peleus bei seiner Hochzeit mit Thetis.
Verwundert über Mangel an Bildung
Thomas Jolly, der künstlerische Direktor der Eröffnung, hat inzwischen bestätigt, dass die kritisierte Szene ein antikes griechisches Bacchanal darstellen sollte und äußert sich verwundert über den Mangel an Bildung, der sich in der Kritik daran spiegelt. Kurienerzbischof Vincenzo Paglia hatte von der „blasphemischen Verspottung eines der heiligsten Momente des Christentums“ gesprochen, und der deutsche Sportbischof Stefan Oster fuhr auf X (ehemals Twitter) noch schwereres Geschütz auf. In einem Videostatement spricht der Bischof von Passau mit Blick auf die queeren Protagonisten des Tableaux‘: Für ihn selbst werde „hier in einem einzigen Moment deutlich, dass diejenigen Christen, die ihren Glauben auch in diesem Punkt des Menschenbildes ernst nehmen, dass die der eigentliche Gegner einer Gesellschaft sind, die sich im atemberaubendem Tempo selbst säkularisiert.“ Oster und die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) werten die Erläuterung der Organisatoren als wenig überzeugend, so die DBK am Montag in einer Stellungnahme. Die Bischöfe betonen die Kunstfreiheit. Oster bleibt aber dabei, das „Abendmahl“ gesehen zu haben. Eine Szene vor dem Bacchanal „erzeugt Assoziationen an das berühmte Gemälde Leonardo da Vincis, das Jesus Christus im Kreis seiner Jünger zeigt“.