Erndtebrück. Die Daten belegen es: Großstädte verlieren Bürger vor allem an die Kleinstädte. Warum nicht jede Kommune profitiert. Spurensuche an zwei Orten.

Der Gedanke sei plötzlich da gewesen, wie ein Ausweg, nach dem man eine Zeit vergeblich gesucht hatte. So klingt das, wenn David Schrey (32) von der Zukunft spricht. Seine Frau Lisa (28) hat in Hamburg und Köln studiert, derzeit leben sie gemeinsam in Siegen. Aber wo wollten sie ankommen? Das war die Frage, die sie sich stellten. Antwort: Erndtebrück. Das Baugrundstück dort haben sie vor wenigen Tagen gekauft, nächstes Jahr soll das Haus stehen. Der Platz im Grünen ist ihnen lieber als die Vorzüge des urbanen Lebens. Und damit sind sie nicht allein. Befeuert die Corona-Pandemie die Flucht aufs Land?

Großstädte verlieren Einwohner an die Kleinstädte

Aktuelle Daten des Statistischen Landesamtes zur Zu- und Abwanderung in den Städten und Gemeinden in NRW deuten darauf hin: Erstmals seit zehn Jahren verlassen mehr Menschen die Großstädte als hinzuziehen, Kleinstädte hingegen legen deutlich zu. Ein Trend zum ländlichen Leben setze sich fort, hält die Studie fest. Allerdings spiele das Coronavirus im Jahr 2020 dabei eine entscheidende Rolle: Der geringere Zuzug aus dem Ausland im Pandemie-Jahr eins wirke sich besonders auf die NRW-Großstädte aus. Diese fehlten jetzt in der Rechnung, was das Minus ebenfalls erklärlich mache.

Erndtebrück, eine Gemeinde mit 7500 Einwohnern im Kreis Siegen-Wittgenstein, verzeichnet die höchste Zuzugsquote aller Gemeinden in Südwestfalen. Die Schreys bessern die Bilanz in Zukunft auf. „Wir haben bemerkt, dass es uns wichtiger ist, fußläufig im Wald zu sein als in der Innenstadt zum Shoppen“, sagt David Schrey, dessen Frau aus Erndtebrück stammt. Auch deswegen hätten sie mitbekommen, dass Bauplätze für Familien geschaffen werden, die es in Siegen kaum gibt – und wenn doch das Dreifache kosteten. Von Metropolen wie Köln oder Hamburg ganz zu schweigen. „Man kriegt mehr fürs Geld“, sagt Schrey und lobt die Gemeinde für ihr Engagement.

Henning Gronau (SPD), 36 Jahre alt, ist seit 2015 Bürgermeister in Erndtebrück. Für die Unternehmensberatung PWC hat er vorher Kommunen beraten, ehe er merkte, dass er selbst gestalten möchte. „Wir spüren seit einiger Zeit, wie groß das Interesse am Leben und Arbeiten in Erndtebrück ist“, sagt er: „Gerade bei Menschen aus der Stadt hat in Zeiten der Pandemie ein Umdenken eingesetzt. Nun lässt sich dies auch in Zahlen ablesen, was uns sehr stolz macht.“

Bauland wird in Erndtebrück aktiv entwickelt

Für Zufall hält man die Entwicklung nicht, sondern für das Ergebnis von politischen Anstrengungen. Neben der Nähe zur Natur biete Erndtebrück „hervorragende berufliche Perspektiven“. Viele pendelten für den Job ein, diese Menschen „versuchen wir davon zu überzeugen, dass Erndtebrück auch die richtige Kommune als Wohnort ist“, sagt Gronau. Bauland werde aktiv entwickelt, was zu einem „regelrechten Bauboom“ geführt habe, wie die Gemeinde mitteilt. Im Ortskern entsteht gerade mit Hilfe eines Investors und Fördergeldern ein Park.

Noch wichtiger sei aber fast die Internetinfrastruktur. „Erndtebrück profitiert davon, dass bereits seit einigen Jahren in jede Ortschaft ein Glasfaserkabel verlegt wurde. Die Entscheidung junger Menschen für oder gegen einen Wohnort hängt heutzutage mehr denn je von einem schnellen Internetanschluss ab“, teilt die Gemeinde auf Nachfrage mit. Dort, wo man arbeitet, muss man nicht mehr wohnen. Sicher auch eine Erkenntnis der Corona-Pandemie.

Der Trend zum Leben auf dem Land ist da – nur: nicht jeder profitiert davon

Aber ist es nun wirklich so, dass die Menschen aus Dortmund, Düsseldorf, Essen und Köln scharenweise ins Sauer- und Siegerland ziehen, weil sie es in der Stadt nicht mehr aushalten oder ihnen die Mieten über den Kopf wachsen? Der Trend ist da, aber nicht jede Gemeinde profitiert davon. Die Kommunen des Kreises Olpe – ländliche Region mit guter Anbindung Richtung Rheinland – verlieren 2020 in Südwestfalen die meisten Bürger von allen südwestfälischen Kreisen. Rüthen im Kreis Soest verzeichnete ein herbes Minus. Winterberg im Hochsauerlandkreis, das 2019 noch Zuwächse hatte und auch schonmal als das St. Moritz des Nordens firmiert, ebenfalls.

Die Stadt ist sommers wie winters der Touristenmagnet der Region – allerdings nicht während einer weltweiten Pandemie. Der „außergewöhnliche Wanderungsverlust“ sei „insbesondere auf die Abwanderung von nationalen und internationalen Arbeitskräften aus der Tourismusbranche zurückzuführen“ analysiert die Gemeinde auf Nachfrage. Viele seien gegangen und die meisten nicht wiedergekommen.

Strategie für mehr Neubürger

Winterberg, sagt die Stadt, erarbeite derzeit eine Strategie, um Neubürger zu gewinnen. Bezahlbarer Wohnraum, die Ausweisung von neuen Gewerbegebieten, eine gute Schul- und Bildungsinfrastruktur seien Ansätze. „Wir stellen allerdings fest, dass wir zum Beispiel gerade beim Ausweisen von Bauland oder bei Gewerbegebieten an unsere Grenzen stoßen“, teilt die Stadt mit. Junge Familien hätten Baugrundstücke gesucht – vergeblich. „Wir sind derzeit darum bemüht, im Rahmen der landesplanerischen Möglichkeiten, zusätzliche Wohnbauflächen bereit zu stellen.“

KoDörfer in Erndtebrück und der Mark Brandenburg

Die VielLeben eG entwickelt KoDörfer. Das sind laut Eigenbeschreibung „Wohnkonzepte für Menschen, die ein Stück Dorfleben in der Stadt vermissen“. Das erste entsteht in Wiesenburg in der Mark Brandenburg: Eine Zugstunde von Berlin werden 40 Häuser zwischen 25 und 80 Quadratmetern gebaut, wie es auf der Internetseite der Gesellschaft heißt.Das zweite wird in Erndtebrück geplant. Auf einem 1,6 Hektar großen Grundstück soll eine Wohnsiedlung mit 21 Häusern entstehen. Baubeginn, so hofft Bürgermeister Henning Gronau, soll im kommenden Jahr sein.

Flächen, die es zum Beispiel in Erndtebrück gibt, wo die Familie Schrey ihre Zukunft aufbaut. David Schrey kann seine Arbeit als Wirtschaftsprüfer fast vollständig aus dem Homeoffice erledigen, seine Frau ist Psychologin und ebenfalls nicht an einen Ort gebunden. Die Klima-Kita, sagt er, liege nahe, der Ortskern werde verschönert. „Und die Dinge des alltäglichen Bedarfs sind ebenfalls fußläufig erreichbar“, sagt er: „Das ist im Alter bestimmt mal eine coole Sache, wenn man lange unabhängig ist.“