Hagen. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz wirft der Bundesregierung vor, beim Thema Waffenlieferungen nicht mit offenen Karten zu spielen.
Friedrich Merz (CDU), lobt Annalena Baerbock und Robert Habeck von den Grünen – und ein bisschen sogar Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag hat die Redaktion der WESTFALENPOST besucht. Ein Gespräch über schwierige Krisenzeiten.
Sind Sie froh, dass Sie momentan nicht mit Putin telefonieren müssen, sondern Olaf Scholz?
Politik ist kein Wunschkonzert. Politiker haben Aufgaben, und die müssen sie erfüllen. Dass man überhaupt noch mit Putin sprechen kann, ist kein schlechtes Zeichen. Jedes Gespräch ist wichtig, aber wir sollten nicht allzu große Hoffnungen darin setzen.
Glauben Sie Putins Versprechen, die Gaslieferungen aufrecht zu erhalten?
Nein, ihm kann man nicht trauen. Das gilt auch für die Gaslieferungen.
Denken Sie denn, dass die Bundesregierung genug tut, um diesen Konflikt schnellstmöglich zu beenden, zum Beispiel durch Waffenlieferungen and die Ukraine?
Wir diskutieren ja ständig die möglichen Wege und Mittel, wie dieser Krieg so schnell wie möglich beendet werden kann. Deshalb werden auch Waffen an die Ukraine geliefert. Aber die Bundesregierung spielt dabei nicht mit offenen Karten. Sie liefert offenkundig nur sehr zögerlich und macht aus angeblichen Sicherheitsbedenken ein großes Geheimnis daraus, was sie eigentlich wirklich schon geliefert hat. Ein kleines Land wie Estland liefert offenbar mehr als die große Bundesrepublik Deutschland.
Sollte der Bundeskanzler in die Ukraine reisen?
Das ist eine sehr persönliche Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss. Als Regierungschef muss man abwägen, ob man sich einem solchen persönlichen Risiko aussetzen will. Das lässt sich nicht von außen beantworten.
Vorwurf an die SPD: Aggressive Unfreundlichkeit
Und wie beantworten sie die Frage für sich selbst?
Ich habe mir noch keine abschließende Meinung gebildet.
Wie schlägt sich die Bundesregierung in dieser Krise?
Wir haben ein sehr differenziertes Bild. Fangen wir beim Bundeskanzler an. Er hat seine eigene Art zu kommunizieren, tut viele Dinge im Stillen und ist dann plötzlich für Überraschungen gut, so wie bei dem 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr. Er bemüht sich sehr um Kooperation mit uns und versucht, in einer so schwierigen Situation parteipolitische Konflikte klein zu halten und gemeinsame Lösungen zu suchen. Das wird von uns aus Überzeugung erwidert.
Das Lob gilt nicht für das gesamte Kabinett?
Die beiden grünen Minister, die jetzt im Vordergrund stehen, Frau Baerbock und Herr Habeck, machen ihre Sache nicht schlecht. Inhaltlich stimmen wir nicht immer überein, aber die Art und Weise, wie sie ihre Ämter führen, findet unsere Zustimmung. Das kann ich für große Teile des von der SPD besetzten Kabinetts nicht sagen. Teilweise begegnet uns dort aggressive Unfreundlichkeit. Zudem sehe ich die große Gefahr, dass die Ampelkoalition derselben Versuchung unterliegt wie schon vorangegangene Bundesregierungen, nämlich jedes Problem mit Geld zuzuschütten. Wenn der Bundeskanzler von einer Zeitenwende spricht, dann drückt sich diese Zeitenwende eben nicht nur in 100 Milliarden Euro mehr Schulden für die Bundeswehr aus. Es müssen jetzt die Prioritäten der Politik neu gesetzt werden, vieles, was wir uns vielleicht gerne wünschen, muss noch einmal auf den Prüfstand. In diesem Punkt bin ich auch von der FDP sehr enttäuscht, insbesondere von Finanzminister Christian Lindner. Er bietet diesen Versuchungen nur rhetorisch Einhalt, nicht praktisch.
Was fordern Sie?
Gerade der Finanzminister müsste in der längerfristigen Finanzplanung die Prioritäten neu ordnen und deutlich darauf hinweisen, dass wir konsumtive Ausgaben nicht unbegrenzt weiter steigern können. Und er muss dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen für diese Volkswirtschaft wieder so gut werden, dass wir tatsächlich wieder die Wachstumsraten erreichen können, mit denen diese Regierung selbst einmal kalkuliert hat. Ich vermisse seinen warnenden Hinweis darauf, dass die Entwicklung des Bundeshaushaltes, also die stark steigende Verschuldung, so nicht weitergehen kann.
„Jede Regierung braucht eine eigene Mehrheit. Sonst ist sie nicht mehr die Regierung.“
Bei der Abstimmung zum 100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr wollen Sie exakt nur so viele Stimmen beisteuern, dass alle Ampel-Abgeordneten dafür votieren müssten, um die nötige Mehrheit zu erreichen. Wollen Sie, dass das Programm scheitert?
Wir wollen, dass das Programm unter den besten Bedingungen gelingt. Das heißt, für die Bundeswehr muss in der längeren Perspektive etwas getan werden, damit wir nicht in fünf Jahren wieder vor demselben Dilemma stehen wie heute. Wir sind bereit, den Vorschlag der Bundesregierung zu unterstützen, wenn er richtig konzipiert wird. Bisher sind wichtige Fragen noch nicht beantwortet: Es fehlt der zugesagte Wirtschaftsplan für die Bundeswehr, wir wollen, dass die Beschaffungsvorgänge vereinfacht werden. Und wir wollen vor allem wissen, wie es denn nach Erschöpfung der 100 Milliarden weitergehen soll. Das alles besprechen wir gegenwärtig mit der Bundesregierung. Im Übrigen gilt der Grundsatz: Jede Regierung braucht im Parlament für ihre Vorhaben eine eigene Mehrheit. Sonst ist sie nicht mehr die Regierung.
Wie müssen wir unsere Energieversorgung umstellen?
Wir dürfen jetzt auf keine weitere Option mehr verzichten.
Egal, was das mit dem Klimaschutz macht?
Gleichzeitig müssen wir die Anstrengungen im Klimaschutz noch einmal verstärken. Und das ist ja kein Widerspruch. Ich halte es zum Beispiel für dringend erforderlich, die Frage des Abscheidens und Speicherns von Kohlendioxid neu zu bewerten. Alle Vermeidungsstrategien wären schon ohne diesen Krieg sehr ambitioniert, im globalen Maßstab sogar unerreichbar. Wir werden das CO2-Problem ohne Abscheidung nicht lösen, aber in Deutschland ist diese Technologie bisher verboten.
Sollten Deutschland länger auf Atomkraft setzen?
Alte Atomkraftwerke wieder hochzufahren wird technisch und genehmigungsrechtlich vermutlich nicht gehen, aber die bestehenden Anlagen länger laufen zu lassen, das wäre eine Option. Sie versorgen zehn Millionen Haushalte zuverlässig mit Strom und sind klimafreundlich. Wahrscheinlich werden wir auch auf die Energieträger Stein- und Braunkohle nicht so schnell verzichten können.
„Die beste Sozialpolitik ist Geldwertstabilität.“
Die Energiepreise treiben die Inflation. Mit welchen Folgen?
Norbert Blüm hat immer gesagt: Inflation ist der Taschendieb des kleinen Mannes. Umgekehrt: Die beste Sozialpolitik ist Geldwertstabilität. Wenn wir jetzt in eine Zeit mit längerfristig höheren Inflationsraten gehen, dann wird das erhebliche soziale Verwerfungen auslösen.
Daraus folgt?
Die Europäische Zentralbank ist völlig aus dem Zeitplan geraten mit ihrer optimistischen Annahme, dass 2022 nur ein leichter Anstieg der Inflation zu erwarten sei. Die EZB muss jetzt sehr schnell handeln.
Aber das wird den Preisanstieg kurzfristig nicht verhindern.
Ja, leider trifft Inflation vor allem diejenigen am härtesten, die Kaufkraftverluste angesichts ihrer geringen Löhne und Renten am schmerzhaftesten spüren. Wir brauchen also gezielte Entlastungen der unteren Einkommen und Transferleistungen etwa für Wohngeldbezieher, aber das nur für begrenzte Zeit, denn die Handlungsspielräume der öffentlichen Kassen sind begrenzt.
Sollten höhere Einkommen mehr belastet werden?
Dafür hätte sich in einer solchen Lage möglicherweise ein Solidaritätszuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer angeboten, aber dieses Instrument ist durch den Missbrauch verbrannt, den die letzte Koalition unter der Federführung von Olaf Scholz als Finanzminister und Herrn Heil als Sozialminister zu verantworten hat. Die SPD wollte den Soli für die höheren Einkommen partout nicht abschaffen, obwohl sein Zweck, nämlich die Refinanzierung der Deutschen Einheit, erfüllt war. Wäre er ordnungsgemäß abgeschafft worden und schlüge die Bundesregierung heute einen Soli vor, um die Folgen des Krieges zu finanzieren, dann wäre ich der letzte, der da sofort nein sagen würde. Aber die SPD hat sich dieses Instrument aus rein ideologischen Gründen selbst aus der Hand genommen.
Scholz und Lauterbach bei Impfpflicht „gescheitert“
Ist die Impfpflicht gescheitert?
Jedenfalls konnten sich Herr Scholz und Herr Lauterbach mit ihrem Vorschlag, eine allgemeine Impfpflicht ab 18 einzuführen, nicht durchsetzen. Sie haben in ihrer eigenen Koalition dafür keine Mehrheit.
Und die Union bleibt bei ihrer Position?
Wir haben einen eigenen Antrag eines Impfvorsorgegesetzes eingebracht. Damit wären alle Voraussetzungen geschaffen, eine Impfpflicht in dem Augenblick auszulösen, in dem wir sie wirklich bräuchten. Heute am Tag brauchen wir sie nicht. Die Krankenhäuser sind nicht überlastet, und das ist der Maßstab. Derzeit wird die Begründung für eine Impfpflicht von Woche zu Woche schwieriger. Vielleicht sieht das im Sommer wieder anders aus, sollte eine neue Welle rollen oder sich eine neue Variante bilden. Auf der Grundlage unseres Antrags könnten wir dann sehr schnell und zielgerichtet reagieren. Voraussetzung dafür wäre allerdings auch die Schaffung eines Impfregisters, denn eine Impfpflicht macht doch nur Sinn, wenn der Staat auch weiß, wer schon geimpft ist und wer nicht.
Am Ende besteht die Gefahr, dass gar keine Regelung kommt.
Das könnte in der Tat sein, aber das wäre auch kein Beinbruch. Dann wären wir nämlich in einer Situation, in der sich fast alle anderen Länder der Welt befinden. Fast niemand hat eine Impfpflicht gegen Omikron eingeführt.
Haben wir zu viel Zeit verloren?
Wenn die Bundesregierung im Januar einen Vorschlag eingebracht hätte, dann hätte es im Bundestag vermutlich auch ohne die FDP eine Einigung gegeben hätte.
„CDU-Frauenproblem liegt nicht in der Führungsspitze“
Wie will die Union ihr Frauenproblem lösen?
Indem wir zunächst definieren, wo unser Problem wirklich liegt. Nämlich nicht zuerst in der Zusammensetzung der Führungsspitze. Dort haben wir so viele Frauen wie nie. Wir sind auch fast fünf Jahre jünger geworden. Unser Problem liegt woanders: Wir haben zu wenig Frauen als Mitglieder, und wir haben zu wenig Frauen in den Parlamenten. Wir müssen als Partei für junge Menschen und Frauen wieder attraktiver werden.
Würde eine Frauenquote mehr Frauen dazu veranlassen, sich der CDU anzuschließen?
Quoten sind immer nur Hilfskonstruktionen, also zweitbeste Lösungen. Aber ich habe auch immer gesagt: Ich verschließe mich dieser Lösung nicht. Das müssen wir auf dem nächsten Parteitag im September diskutieren und entscheiden.
Die Wahl im Saarland war ein Desaster. Fürchten sie die Wahl in NRW?
Nein, wir haben hier einen Kandidaten, der in allen wesentlichen Kompetenzfeldern vorne liegt. Das ist die beste Voraussetzung dafür, dass wir die Wahlen gewinnen.
Verknüpfen Sie Ihre eigene Person mit dem Wahlausgang?
Diese Wahl hat für uns alle eine überragende Bedeutung.
Unternimmt die Bundesregierung alles Mögliche, um den Neubau der maroden A-45-Brücke zu beschleunigen?
Ich bin weder Planungsexperte noch Ingenieur, aber allein die Diskussionen in den vergangenen Wochen geben mir diese Zuversicht nicht. Ich hätte mir mehr Präsenz und mehr persönliches Engagement des Bundesverkehrsministers gewünscht. Die A 45 ist für diese Region, für ganz Südwestfalen ein großes strukturelles Problem. Wenn selbst die Italiener die Brücke von Genua in zwei Jahren wieder aufgebaut haben, dann sollten wir uns an ihnen ein Beispiel nehmen. Mit fünf Jahren Bauzeit geben wir uns jedenfalls nicht zufrieden.