Hagen. Warum der Lockdown des Winters nun zu mehr kranken Kindern führt und wie Eltern ihren Nachwuchs trotz Infekts in Schule und Kita schicken können.

Alexandra Schweda hastet mit ihrem Kinderwagen durch die Stadt. Sie müsste eigentlich arbeiten, aber der Kinderarzt hatte kurzfristig noch einen Termin frei. Ihre drei Töchter – Isabella (2), Elena (7) und Kaja (9) – sind krank. Husten, Schnupfen, Halsschmerzen. Mal wieder. Oder immer noch. So genau lässt sich das mitunter nicht sagen. „Wir sind in Dauerschleife krank und das nervt“, sagt Alexandra Schweda, während sie ihren Weg ungebremst fortsetzt. Sie muss zurück ins Homeoffice und dort gleichzeitig irgendwie die Kinder betreuen.

Erkältungswelle: 50 Prozent mehr Atemwegserkrankungen als sonst zu dieser Zeit

Wie der Hagenerin geht es Tausenden Kindern und Eltern. Denn die Erkältungswelle hat sich offenbar früher als sonst in Gang gesetzt und rollt schon seit Wochen durch die Klassenzimmer und Kindertageseinrichtungen. Da ist dann auch mal wie die Tiger- oder Delfin-Gruppe zur Hälfte verwaist. „Wir haben derzeit vermehrt Kinder mit Erkältungen, teilweise mit Fieber als Begleiterscheinung“, berichtet Andreas Kerntke, Geschäftsführer der Kita Hegemann gGmbH, die zwölf Einrichtungen in Hagen, Iserlohn, Menden und dem Kreis Unna betreibt. „Wir sind froh, dass dies noch nicht zu Schließungen von Gruppen geführt hat.“

Erkrankungen bei Kindern sind zu dieser Jahreszeit eigentlich nichts Ungewöhnliches. Und dennoch scheint das Ausmaß in diesem Jahr ein anderes zu sein. „Die Zahl der akuten Atemwegserkrankungen sind derzeit deutlich höher als man das zu diesem Zeitpunkt des Jahres erwarten würde“, sagt Dr. Burkhard Lawrenz, Kinder- und Jugendmediziner aus Arnsberg und stellvertretender Vorsitzender des Berufsverbandes in Westfalen-Lippe. Er und viele Kollegen hätten nach den Sommerferien „etwa 50 Prozent mehr“ mit Atemwegserkrankungen zu tun gehabt als sonst.

Lockdown des vergangenen Winters hat das Immunsystem außer Form gebracht

Woran das liegt? Vermutlich an der Vorsicht, die die Pandemie den Menschen abverlangte. „Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Erkrankungswelle mit dem langen Lockdown im vergangenen Winter zusammenhängt“, sagt Burkhard Lawrenz. Die normalen Atemwegsinfekte trainierten das Immunsystem. „Dieses Training fehlt und deswegen haben die derzeit zirkulierenden Viren in den wieder voll besetzten Schulklassen und Kindertagesstätten bessere Chancen.“ Zu Zeiten einer Pandemie, in denen noch immer Vorsicht geboten ist, weil sich die Symptome einer banalen Erkältung und einer Infektion mit dem Coronavirus nicht unterscheiden lassen, birgt das Probleme.

Probleme, die Alexandra Schweda alle kennt. Die Viren, die die Kleinen anschleppen, haben sie auch schon, erwischt. Fehlzeiten bei der Arbeit – wegen eigener Krankheit oder wegen der nötigen Kinderbetreuung – sind kein Vergnügen, aber für viele derzeit keine Seltenheit. „Es ist unglaublich anstrengend“, sagt die Mutter, weil die Kinder „bei jedem kleinen Schnupfen“ zu Hause bleiben müssten. Man solle das Kind zur Vorsicht lieber einen Tag daheim lassen und abwarten, bis die Symptome abgeklungen seien. „Kennt man ja, dass Husten und Halsschmerzen nach einem Tag wieder weg sind“, sagt sie ironisch. Ein Dilemma für Eltern, für Kinder, für Arbeitgeber.

„Ein Schnelltest reicht, dann kann das Kind wieder in die Schule oder die Kita“

Burkhard Lawrenz, der Mediziner aus dem Sauerland, hält das Vorgehen deswegen für nicht umsetzbar. „Es ist unsinnig, die Kinder bei jedem kleinen Schnupfen nicht in die Schule oder die Kita zu schicken. Das halten die Eltern und unser Wirtschaftssystem auch gar nicht aus“, sagt er und plädiert für eine andere Praxis: „Bei Auftreten der ersten Symptome ist die Viruslast am größten. Das heißt, dass jeder Schnelltest ausreicht, um mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Covid-19-Infektion nachzuweisen oder eben auszuschließen. Ist der Test negativ, muss das Kind nicht zu Hause bleiben“, sagt er. Negativ getesteten Kindern stelle er eine Bescheinigung aus, dass sie „wieder am normalen Leben teilnehmen“ können. Zumal Kinder - dazu gebe es gute wissenschaftliche Daten - weniger Aerosole ausstießen und damit sehr unwahrscheinlich andere ansteckten.

Hat denn die frühe Erkältungswelle wenigstens etwas Gutes? Sind die Kinder schneller abgehärtet und dann weniger oft krank? „Wenn es keinen Lockdown mehr geben wird, dann wird das ein normaler Winter mit etwa einem Infekt pro Kind pro Monat“, sagt Burkhard Lawrenz, „mit dem Unterschied, dass das alles jetzt schon anfängt.“

<<< HINTERGRUND >>>

„Das ist ein vorgezogener Herbst und Winter“, erklärte Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbands Kinder- und Jugendärzte Nordrhein, die Erkältungswelle. An einem Samstag in der Notfallpraxis habe der Kinderarzt zum Beispiel 70 Patienten mit Erkältungssymptomen behandelt - was deutlich untypisch für die Jahreszeit sei. Solange das Kind aber fieberfrei und in einem guten Allgemeinzustand sei, könne es bei einem „banalen Infekt“ in die Kita gehen.

Der Arnsberger Arzt Burkhard Lawrenz, stellvertretender Vorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe, sagt, dass die Kinder die Viren zwar oft in die Familien trügen. „Allerdings: Erwachsene sind deutlich immunerfahrener und deswegen weniger anfällig als Kinder.“ Das mangelnde Training zuletzt sei für sie weniger entscheidend, weswegen sie die bekannten Viren wie das RS-Virus oder das Rhinovirus besser bekämpfen könnten. Anders sieht es laut Lawrenz beim Coronavirus aus. „Das Immunsystem von Kindern ist darauf programmiert, Fremdes abzuwehren. Das Coronavirus ist fremd. Das Immunsystem von Erwachsenen ist wiederum so trainiert, dass es sehr gut das abwehrt, was es bereits kennt.“