Lippstadt. Wie trifft die hohe Inflationsrate die Menschen ganz konkret? Ivonne Mieth, dreifache Mutter, rechnet es genau vor. Es geht um Hunderte Euro.

Ivonne Mieths neuer Gaspreis steht in der Betreffzeile E-Mail: Vier Cent mehr pro Kilowattstunde. Wenige Tage später flattert die nächste Nachricht herein: „Wir heben unsere Strompreise an.“ Die 46-jährige alleinerziehende Mutter aus Oerlinghausen im Kreis Lippe: „Da bekommt man mit Blick auf die Ukraine-Katastrophe und den sich daraus ergebenden unabsehbaren, weiterreichenden Auswirkungen auf die Inflation Existenzängste.“

Der Krieg mitten in Europa hat die Heizöl- und Kraftstoffpreise in den letzten Februartagen in die Höhe schnellen lassen. Die Inflationsrate steigt in NRW auf 5,3 Prozent, wie das Statistische Landesamt am Dienstag mitteilt. Das Institut der Deutschen Wirtschaft geht davon aus, dass die Jahresteuerung noch auf über 6 Prozent klettern wird. Immer mehr Menschen sorgen sich um ihr Geld, um ihr Auskommen.

Das Gefühl, alleingelassen zu sein

So wie Ivonne Mieth, Mutter dreier Kinder im Alter von 14, 19 und 21 Jahren. Für unsere Redaktion rechnet sie vor, was sie vor einem Jahr im Monat ausgeben musste - und wie viel es jetzt ist: Mehr als 400 Euro muss die 46-Jährige zusätzlich zahlen (siehe Grafik). Durch die rasant steigenden Energiekosten und die anziehenden Preise für Lebensmittel müsse sie jeden Tag „exakt rechnen“, damit am Monatsende etwas übrig bleibt. Die beiden älteren Kinder wohnen noch bei ihr. „Die Großen sind ein Stück weit für sich selbst verantwortlich“, sagt die Frau, die im Arnsberger Stadtteil Herdringen aufgewachsen und für den Paritätischen Wohlfahrtsverband in Lippstadt als Koordinatorin für die offenen Ganztagsschulen in Werl zuständig ist. Durch ihre Arbeit kenne sie viele alleinerziehende Mütter, die sich mit der Inflation alleingelassen fühlten.

So sieht die Vergleichsrechnung von Ivonne Mieth aus.
So sieht die Vergleichsrechnung von Ivonne Mieth aus. © funkegrafik nrw | Pascal Behning

Der Sozialverband VdK schätzt, dass in NRW jeder fünfte Bürger von Energiearmut hart getroffen ist. Viele könnten selbst durch Mehrarbeit die Preissteigerungen nicht mehr ausgleichen.

Ernüchternder Blick ins Portemonnaie

Ivonne Mieth kann es noch: Sie bezeichnet sich mit einem Netto-Lohn von 2087 Euro als Normalverdienerin. „Inklusive Kindergeld und Unterhalt kommen wir über die Runden.“ Es gebe aber viele Menschen, für die das nicht gelte: „Menschen, die kein Geld für die Rente auf die Seite schieben können und die nun jeden Cent dreimal umdrehen müssen.“

Die Inflation, erzählt Ivonne Mieth, offenbare sich beim täglichen Blick in ihr Portemonnaie. „Allein die Ausgaben für die Schule summieren sich auf 350 Euro im Jahr.“ Sie sei froh, etwas gespart zu haben und kaufe nur noch das ein, was nötig sei. Bereits jetzt spare sie an Fleisch.

Zur Sparfüchsin erzogen

Vor allem Obst und Gemüse sei teuer geworden, sagt die 46-Jährige. „Für eine Gurke habe ich letztens im Supermarkt 1,79 Euro gezahlt. Wahnsinn.“ Alles werde teurer – „und ich weiß nicht, ob das noch ein Ende hat“. Beim Einkauf könne sie sparen, aber beim Benzin hätte sie keine Wahl: „Die Bahn-Anbindung auf dem Land – von Oerlinghausen nach Lippstadt – ist schlecht.“ Also müsse sie jeden Werktag 50 Kilometer mit ihrem 20 Jahre alten Golf-Kombi hin- und zurückfahren.

Ivonne Mieth arbeitet bereits seit Jahren im Sommer zusätzlich als Kellnerin, „damit wir uns etwas leisten können“. Markenklamotten, betont sie, seien darunter nicht zu verstehen. Sollte die Inflation weiter steigen, werde sie sich noch einen weiteren Job suchen müssen, um die Ausbildung ihrer Kinder künftig finanzieren zu können.

Ein klein wenig Luxus

Das Entlastungspaket der Ampelkoalition begrüßt Ivonne Mieth, aber am Ende bleibe nicht viel übrig, weil die Preise überall weiter anzögen. Sie versuche zurzeit alles, um Geld zu sparen. „Ich werde zur Sparfüchsin. Ich ziehe sogar den Stecker von Standby-Geräten, damit kein Strom im Pausenmodus verbraucht wird.“ Sie achte zudem noch mehr als vorher darauf, die Heizung herunterzudrehen, wenn keiner zuhause ist. Nur auf den US-Streaminganbieter Netflix würde sie ungern verzichten. „Wir müssen nicht dreimal im Jahr in den Urlaub fahren, aber ein bisschen alltäglicher Luxus, der sollte schon sein. Ein klein wenig zumindest.“

Ivonne Mieth kennt die Ursachen für die Inflation: Rohstoffknappheit, Lieferengpässe, weltwirtschaftliche Verflechtungen – sie kann sie alle aufzählen. Eine Lösung hat sie nicht parat. Zu komplex sei das Thema. Sie wirft den Politikern aber vor, nicht zu wissen, wie groß die Not an der Basis tatsächlich ist.

Die Ärmsten der Armen

Die Jahre als alleinerziehende Mutter, verrät Ivonne Mieth, hätten sie stark gemacht. „Mir geht es ja noch verhältnismäßig gut, aber die Zahl der Eltern, die abgemahnt werden, weil sie die Schulkosten für ihre Kinder nicht mehr zahlen können, nehmen zu“, berichtet sie aus der Erfahrung ihres Jobs heraus. Die Inflation treffe nicht mehr nur die Ärmsten der Armen, sondern sei mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

>> HINTERGRUND: Rentnerin und Arbeiter rechnen nach

„Die Inflation ist bei den Ärmsten angekommen“, berichtet Angelika Beck aus Schwelm. Die 69-Jährige hat bis zu ihrer Rente für die Caritas gearbeitet. Seit 2006 führt sie ehrenamtlich den Tafelladen und den Kleiderladen in Schwelm. Seit Dezember 2021, so erzählt sie, explodiere der Zulauf der Bedürftigen: „Bis November waren es 115 Personen, jetzt sind es 150 – und es kommen Woche für Woche immer mehr.“

Aus den Gesprächen mit Kunden im Tafelladen weiß die Schwelmerin, dass für viele durch die Teuerung das Geld nicht mehr reicht. „Darunter sind junge Familien und viele Migranten. Es gibt Mütter, die verzichten wegen der Kostensteigerung von bis zu 25 Prozent auf Obst und Gemüse für ihre Kinder.“

Das milliardenschwere Entlastungspaket der Ampelkoalition bezeichnet Angelika Beck als Tropfen auf den heißen Stein: „Allein vom um 20 Euro erhöhten Kindergeld für Hartz-IV-Bezieher wird am Monatsende kaum etwas übrig bleiben, da es zu 100-Prozent auf den Regelsatz angerechnet wird.“

Sie selbst, so die Rentnerin, führe seit Jugendjahren ein Haushaltsbuch. „Das hilft mir zurzeit enorm.“ Allein die Heizkosten setzten ihr zu: „Im Januar 2021 habe ich für 2500 Liter Heizöl noch 1300 Euro gezahlt, kürzlich für 1000 Liter weniger einhundert Euro mehr.“ Sie rechne jetzt genau nach. Sie gehe zweimal die Woche einkaufen, im Vergleich zum Vorjahr gebe sie 20 bis 35 Euro mehr aus. „Es geht mir gut, aber am Ende sollte etwas Geld auf dem Konto verbleiben, falls zum Beispiel die Waschmaschine ihren Geist aufgibt.“ Und das sei zurzeit kaum möglich. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg mitten in Europa sagt sie: „Ich fürchte, es wird alles noch schlimmer.“

Wie ein Arbeiter sein Erspartes zusammenhalten will

Der Sauerländer Wulf Hauenschild will sein Geld „zusammenhalten“ und sparen.
Der Sauerländer Wulf Hauenschild will sein Geld „zusammenhalten“ und sparen. © Privat | Privat

Wulf Hauenschild arbeitet seit 1981 im Pfleiderer-Werk in Arnsberg. Der 59-jährige Sauerländer: „Ich bin jetzt in Altersteilzeit und bekommen dementsprechend weniger Lohn.“ So langsam spüre er die Auswirkungen der Inflation. Im Vergleich zum Vorjahr zahle er allein für Strom, Heizöl und Benzin rund 150 Euro mehr im Monat. Insgesamt komme er auf 200 Euro Mehrausgaben pro Monat im Vergleich zum Vorjahr. Er müsse zum ersten Mal in seinem Leben auf Erspartes zurückgreifen. Die unsichere Lage zwinge ihn, sein Geld „zusammenzuhalten“. „Als zukünftiger Rentner wird es ja nicht mehr.“ Eigentlich wollte Wulf Hauenschild in diesem Jahr eine Gasheizung kaufen. „Darüber“, sagt er, „muss ich erst noch ein paar Nächte schlafen.“