Hagen. . Extrabreit-Gitarrist Stefan Kleinkrieg begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Er besucht den ehemaligen Szenetreff „Bei Rainer“.

Die Spinnwebe wackelt. Seit Jahrzehnten dröhnte von hier aus kein Ton durch das Fenster. Heute erstmals wieder. Längst nicht so laut wie damals, aber es ist just einer jener Songs, mit dem das westfälische Musikwunder begann.

„Die Alptraumstadt, in der ich lebe, da wo die Menschen sich nicht trau´n“, singt Stefan Kleinkrieg, Gitarrist und Gründungsmitglied der Band Extrabreit, „mal außer der Reihe, ihre Zukunft zu bau´n.“ Er lehnt auf dem Fenstersims in der ehemaligen Kneipe „Bei Rainer“. Es hallt, die Räume stehen leer. Schon ewig. Früher war „Bei Rainer“ vibrierender Szenetreff der Typen mit Träumen, die keine Träumer bleiben wollten; der „mover and shaker“, wie manche die jungen kreativen Hasardeure heute in Berlin nennen. Hagen war kurzzeitig Berlin. 1978, vor 40 Jahren, beginnt die Geschichte dieser knalligen Ära. Vielleicht ist es sogar die Geschichte der Kneipe mit der Spinnwebe vorm Fenster.

Kleinkrieg: "Wild entschlossen, der Tristesse zu entkommen"

„Wir waren damals wild. Wild entschlossen, der Tristesse zu entkommen“, sagt Kleinkrieg, „unser Traum war neu: Wir wollten anders werden, nämlich reich und berühmt.“ Geschafft. Für eine kurze wilde Zeit.

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Rund eine Million Tonträger haben Extrabreit verkauft. Exakte Zahlen gibt es nicht. 1982 waren sie die erfolgreichste deutsche Band, die Bravo lag mit Covern ihrer Konterfeis am Kiosk aus, vor Kleinkriegs Haus sammelten sich Groupies. Ihr Erfolg und der Erfolg von Nena, den Humpes und Co. ließ die Region strahlen. Hagen war hip. „Wir haben viel getroffen: vor allem den Zeitgeist“, sagt Kleinkrieg.

Ein Soundtrack von der Volme

In der rotzigen Ironie ihrer Texte fanden sich Jugendliche von Bremerhaven bis Augsburg wieder. Auch sie suchten eine neue Zukunft. Der Soundtrack dazu kam von der Volme. Von hier aus wurde das Lebensgefühl einer Generation in Musik gegossen, die gelangweilt war von der faden Lebenswelt grauer, Tauben-überfüllter, Auto-optimierter Städte der jungen 1980-er.

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Der Extrabreit-Song „Alptraumstadt“ fasst das zusammen: „Die Alkohol- und Jugendsünder, die Buß- und Bettel-Litanei, die Polizei und ihre Kinder, wir woll’n doch alle friedlich sein!“ Der Aufruf zu kreativen Ungehorsam steht zwischen den Zeilen.

Im Zug mit Nena nach Schwelm

Diese Freiheit nahmen sich Kleinkrieg und Konsorten, die vergessene Kneipe „Bei Rainer“ war ihr Schmelztiegel. „Forensiker werden hier eine Menge DNA-Material von mir finden“, sagt der 62-Jährige. Er war sehr oft hier, am Wilhelmsplatz in Hagen-Wehringhausen. „Unser Leben hat hier eine Richtung genommen.“ Wie von vielen anderen auch, die Musik oder eine neue Art von Politik als ihren Ausweg ansahen.

"Bei Rainer" - Wo die Geschichte von Extrabreit begann

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    Man kannte sich. Stefan Kleinkrieg und eine Gabriele Susanne Kerner trafen sich morgens im Zug nach Schwelm. Er war unterwegs zu seiner Ausbildung zum Schaufensterdekorateur, sie sollte Goldschmiedin werden. Als Nena machte sie dann international Karriere. Nach den Gigs trafen sie sich „Bei Rainer“. „Es war eine ganz besondere Zeit.“ Aber warum? „Vielleicht, weil wir damals schon Scheitern auch als Chance verstanden haben.“

    Extrabreits erster Charterfolg war "Polizisten"

    Das alles passierte in Hagen; von den meisten belächelt, von vielen seiner eigenen Bewohnern nicht ernst genommen. Es ist einfach, Hagen hässlich, duster, tot zu finden. Eine Stadt, in der seit den 1980-ern das Gebäude der Arbeitsagentur eines der höchsten ist. Die jungen kreativen Hagener Hasardeure aber sagten sich damals: „Gerade jetzt! Gerade hier!“ Und es klappte.

    Extrabreits erster Charterfolg hieß „Polizisten“, er liefert das Gemälde eines westdeutschen Ordnungshüters, eine Psychoanalyse der Staatsmacht. „Meine Eltern waren entsetzt von unseren Songs“, sagt Kleinkrieg. Nato-Doppelbeschluss, Anti-Atomkraftbewegung, Erstarken der Rechten. Es war eine politisch hitzige Zeit. Eine Zeit wie heute.

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    Ist das möglich, ein zweites westfälisches Musikwunder? „Hagen hat Potenzial“, sagt Kleinkrieg, „aber auch viele Neider in entscheidenden Positionen.“ Die gab es bestimmt auch damals schon. Vielleicht nur nicht so gut organisiert wie heute.

    Extrabreit spielt auf dem Wacken Festival

    Geblieben von alledem ist bei Kleinkrieg die enge Bindung an seine Heimat. „Vielleicht ist es die Luft hier? Hagen beruhigt mich.“ Einen siebenjährigen Ausflug gönnte er sich nach Hamburg. Heute ist er wieder da.

    40 Jahre Extrabreit – den Glanz von 1982 versprüht die Band nicht mehr, sie gehen aber weiter auf Tour. „Mittlerweile verkaufen wir keine Musik, sondern Zeit.“ Damit sind auch Erinnerungen gemeint. Lateinisch steht auf seinem Unterarm tätowiert: Sic transit gloria mundi, so vergeht der Glanz der Welt. Wirklich?

    Neulich spielte Extrabreit das erste Mal beim Hardrock-Festival in Wacken vor über 10 000 Fans, ein neuer Song kam kürzlich raus. Da geht also vielleicht wieder was. So wie in der Kneipenbrache „Bei Rainer“. Es gibt aktuell mehrere Ideen für das Gebäude. Es könnte vielleicht sogar wieder ein Treff werden, um Musik zu machen, Kunst auszustellen, Bier zu trinken. Die Wilden von damals sollen kommen und vor allem die Wilden von heute. Zurück in die Zukunft. Warum nicht? Die Stadt hat bewiesen, dass sie glänzen kann. Dann ist „Bei Rainer“ endlich auch die Spinnwebe weg.