Hagen. .
Mit 66 Jahren war das Leben vorbei. Zwischen Pizzakartons und Zigarettenschachteln ist Helga K. auf dem Fußboden gestorben. Gefunden hat man die Hagenerin erst am Freitagvormittag, fünf Jahre später. Warum aber hat so lange niemand etwas bemerkt?
Vielleicht, weil der Leichengeruch in diesem Fall nicht allzu durchdringend war. Zwar will sich eine Nachbarin vor Jahren über einen „bestialischen Gestank“ beim Vermieter beschwert haben. Möglicherweise aber habe es „nur kurz leicht gerochen“, so Ralf Zweihoff, Leiter des Dortmunder Instituts für Rechtsmedizin. Wenn die Luft sehr trocken sei, mumifiziere der Leichnam ohne Gestank.
Miete und Nebenkosten wurden regelmäßig abgebucht
Die Frau wurde wohl auch nicht entdeckt, weil Miete und Nebenkosten laut Polizei regelmäßig vom Konto abgebucht wurden. Der Energieversorger Mark E etwa erhielt sein Geld per Dauerauftrag. „Die Zahlungseingänge liefen nach dem Tod der Frau weiter“, sagt Unternehmenssprecher Uwe Reuter. Der Zugang zu den Zählern liege zentral im Keller des Mehrfamilienhauses. Der Verbrauch sei seit Jahren gering gewesen – möglicherweise verursacht durch Kühlschrank und sonstige Standardgeräte – und lag bei rund einem Drittel der Durchschnittswerte eines Ein-Personen-Haushalts.
Die Jahresabschlüsse, die Helga K. von Mark E zugeschickt bekam, gingen in den vergangenen Jahren stets als unzustellbar zurück. Wegen des geringen Verbrauchs erhielt sie immer eine Gutschrift. Das Geld wurde auf ihr Konto überwiesen. „Eine Mahnung musste nie erfolgen“, so Reuter. Daher habe aus kaufmännischer Sicht ein sauberes Kundenkonto vorgelegen. „Für uns als Unternehmen haben Rechnungen, die nicht beglichen werden Priorität. Nur dann nehmen wir Kontakt zum Kunden auf“, so Reuter.
Rentenzahlungen waren eingestellt
Woher aber kam das Geld für diese Abbuchung und für die Miete? Seit 2009 nämlich hat die Dame keine Rente mehr bekommen, wie ein Mitarbeiter der Deutschen Rentenversicherung Westfalen mitteilt. Ein Mal im Jahr verschickt das Unternehmen die Rentenanpassungsmitteilungen. Kommt der Brief als unzustellbar zurück und scheitert ein zweiter Versuch ebenfalls, „wird die Zahlung vorsichtshalber eingestellt“, heißt es. So auch in diesem Fall.
Daraufhin hat die Rentenversicherung ermittelt und beim Einwohnermeldeamt in Hagen nachgefragt. Die Behörde gab das Anliegen an das Ordnungsamt weiter. Das will beim Vermieter, bei der Hausverwaltung, den Nachbarn nachgefragt haben. Als niemand etwas über den Verbleib der Dame sagen konnte, galt sie von Februar 2011 an als unbekannt verzogen. Ob der Vermieter noch Miete eintrieb, danach fragte das Ordnungsamt nicht. Denn gewundert hat sich bei der Behörde keiner; es scheint nichts Ungewöhnliches, dass Menschen wegziehen, ohne sich bei der Stadt abzumelden: „Wir haben in Hagen pro Jahr 1000 solcher Fälle“, so Stadtsprecher Thomas Bleicher.
Der Vermieter schweigt
Warum aber hat der Vermieter, der den Behörden doch mitgeteilt haben soll, nichts über die Frau zu wissen, nichts unternommen? Warum hat er ebenso Jahre zuvor nichts getan, als eine andere Mieterin ihn auf den Geruch im Treppenhaus aufmerksam gemacht haben will? Der Vermieter selbst, ein mittelständiges Familienunternehmen aus Hagen, wollte gestern keine Stellung zu dem Fall beziehen.
„Der Vermieter ist allen Mietern verpflichtet. Wenn sich jemand über Geruch beschwert, muss er sich kümmern“, wundert sich Tim Treude vom Landesverband „Haus und Grund“. Und wenn der Mieter, aus dessen Wohnung der Geruch dringt, auf Anrufe und Briefe des Vermieters nicht reagiere, müsse der Eigentümer eben die Polizei verständigen, so Treude.
Trauriger Rekord: Toter lag 20 Jahre unbemerkt in eigener Wohnung
Insbesondere, da es nicht ungewöhnlich ist, dass Menschen unbemerkt in ihrer Wohnung sterben. „Zwei bis drei Fäulnisleichen pro Monat“, werden im Dortmunder Institut für Rechtsmedizin untersucht, sagt Ralf Zweihoff. Meistens aber würden diese Leichen nach wenigen Tagen bis Wochen, nicht Jahren entdeckt.
Trauriger Rekord jedoch ist der Hagener Fall nicht: In Hamburg, so erzählt Zweihoff, habe ein Mann 20 Jahre unbemerkt tot in seiner Wohnung gelegen. Dass die Weihnachtbeleuchtung die ganze Zeit im Fenster leuchtete, hatte die Nachbarn nicht stutzig gemacht.