Arnsberg. Die Freilichtbühne Herdringen feiert 75-Jahr-Jubiläum. Von Anfang an dabei: Familie Schmidt. Warum Nico auf der Bühne getauft wurde.
Nico Schmidt weiß bereits, dass in den meisten Menschen mehr steckt, als sie ahnen, ein königlicher Küchenjunge mit weißer Mütze zum Beispiel oder ein Minibaum in graubrauner Latzhose. Der achtjährige Nico steht auf der Freilichtbühne in Herdringen, seit er mit 10 Wochen in der „Heißen Ecke“ im Kinderwagen geschoben wurde.. Er ist Akteur in vierter Generation, denn sein Uropa Bruno Schmidt (1925-2009) gehörte vor 75 Jahren zu den Gründern des Amateurtheaters. Das Glück des Spiels begeistert die Schmidts seither ungebrochen. „Das ist unser Familienhobby“, sagt Benedikt Schmidt (39), der Papa von Nico. Sein Sohn wurde sogar auf der Freilichtbühne getauft.
Rund 100 Freilichtbühnen gibt es in Deutschland, die von Amateurdarstellern betrieben werden. Sie spielen in aufgelassenen Steinbrüchen, Burg- oder sonstigen Ruinen und erreichen etwa eine Million Zuschauerinnen und Zuschauer jährlich. Auch in Herdringen sind die Zahlen beachtlich. 350 Mitglieder im Alter von acht Monaten bis 85 Jahren sind dort aktiv. Im Familientheater „Schneewittchen – Traue keinem Apfel“ machen in diesem Sommer 75 Darstellende mit, im Erwachsenenstück „Und es hat Zoom gemacht“ rund 40. Vom Hauch der Klamotte, den Unwissende gerne mit dem Stichwort Freilichtbühne verbinden, ist Herdringen Lichtjahre entfernt. Die Akteure spiegeln die gesamte Gesellschaft, und die Inszenierungen sind pfiffig, denn die Herdringer legten in 75 Jahren stets Wert auf gut ausgebildete Regisseure und Choreographen – wie Bruno Schmidt, der beim legendären Anton Funke von der Waldbühne Hamm-Heessen in die Lehre ging und in Herdringen von 1996 bis 2003 auch die Regie führte.
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Auf der Bühne ist Probe für „Schneewittchen“. Die Hexen beschwören mit gruseligen Gesängen ihren dampfenden Kessel, in dem sie das Gift für den Apfel brauen. Die Königin ist süchtig nach Spiegeln, und die Zwerge sind so wie alle Leute, der eine klug, der andere bedächtig, der dritte ängstlich. Die Szenerie des Märchens wirkt wie verzaubert, und das liegt an den wunderbaren Kostümen von Nicole Becker mit ihren unerwarteten Details wie den übergroßen gelben Knöpfen. Holzsammler, Gauner, König und Königin sind in ihren bürgerlichen Lebensläufen bunt gemischt. „Wir haben alle Berufe auf der Bühne, vom gelernten Hufschmied über Lehrer, IT-Experten bis zu Finanzbeamten“, schildert Benedikt Schmidt, der selbst Groß- und Außenhandelskaufmann ist.
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Und es gibt eben nicht nur die alten Familien, sondern auch immer wieder viele neue Gesichter: „Hier oben im Theater ist es total egal, aus welchem Land man kommt oder welche Rolle man spielt“, betont Benedikt, und sein Vater Raimund Schmidt (64) ergänzt: „Manche sind nur für kurze Zeit dabei, weil sie merken, wie intensiv das ist. Das Sommertheater beginnt zum Beispiel im November mit der Stückauswahl. Aber andere bleiben.“
Die Zukunftsfrage nehmen alle ernst. Corona hat ja auch den Freilichtbühnen gezeigt, wie anfällig das Kulturleben sein kann. „In den vergangenen 20 Jahren ist immer darauf geachtet worden, dass es im Vorstand einen gesunden Altersdurchschnitt gibt. Es wird viel Wert auf die Jugend gelegt“, weiß Benedikt Schmidt. Seine Schwester Linda Voßbeck (33) ergänzt: „Das fängt schon bei der Stückauswahl an. Jetzt gibt es zum Beispiel im Erwachsenentheater eine Tanzgruppe aus Jugendlichen, die haben sich zusammengefunden und selbstständig etwas auf die Beine gestellt. Wir geben mittlerweile auch Choreographien an Anfang-Zwanzigjährige ab, die den Erwachsenen etwas beibringen.“ Raimund Schmidt unterstützt die Aussagen seiner Kinder: „Die Zeiten haben sich geändert, das Verstaubte und Vertrocknete ist vorbei.“
Keine Berührungsängste
Die Ensembles sind zudem keine geschlossenen Gruppen, sondern durchlässig. Wenn Jugendliche ins Erwachsenentheater wechseln wollen – kein Problem. Umgekehrt gehen Erwachsene zurück ins Familientheater, sobald sie Kinder haben und mit ihnen auf der Bühne stehen wollen – so wie Benedikt Schmidt, der nicht nur zusammen mit Nico in „Schneewittchen“ spielt, sondern dabei auch seine vierjährigen Zwillingsmädchen an der Hand hat.
Unterdessen erreicht auf der Bühne der Junge Willibald den Zwergenwald, wo er sein verehrtes Schneewittchen sucht und bittere Tränen weint, als er die Liebste wie leblos da liegen sieht. Das verwirrt die Hexen, die kommen, um sich Schneewittchen als Belohnung für ihr Gift zu holen. Denn: Wer geliebt, wird, über den hat das Böse keine Macht. Die Szene ist schon bei der Probe ergreifend. Und es wird viel gelacht, weil natürlich längst nicht alles klappt. Regisseurin Bärbel Kandziora nimmt die Texthänger gelassen. Bis zur Premiere am 15. Juni wird noch intensiv gearbeitet.
Mit Theaterpannen kennt sich auch Familie Schmidt nach all den Jahren bestens aus. „Das Schrägste, was ich je erlebt habe, war, dass eine große Rolle krank wurde, ganz plötzlich, mitten im Stück. Das war beim ,Wirtshaus im Spessart‘. Und dann hat das Ensemble die ganze Vorstellung durch improvisiert, und es ist keinem aufgefallen, dass die Rolle fehlte“, erinnert sich Linda Voßbeck. Benedikt Schmidt hat es beim „Räuber Hotzenplotz“ noch härter getroffen. Er wurde als Kasperl mit seinem Freund Seppel in der Räuberhöhle gefangen und gefesselt. Dann ging ein großer Wolkenbruch über dem Gelände nieder, die Vorstellung wurde unterbrochen, alle flüchteten sich ins Trockene, nur Kasperl und Seppel nicht, die hatte man in der oben offenen Räuberhöhle vergessen. „Hier ist immer etwas los“, kommentiert er die Bühnenabenteuer.
Urgroßvater Bruno Schmidt hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. „In verschiedenen Regionen und Ortschaften unserer Bundesrepublik kann man ein interessantes Phänomen beobachten. Plötzlich werden Kinder, Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, Großväter und Großmütter von einer inneren Unruhe erfasst. Kein Arzt, kein Professor hat ein Mittel gegen dieses Fieber. Es ist das Freilichtspielfieber.“ Zu dieser Krankheit bekennt sich die Familie Schmidt in Herdringen von ganzem Herzen.
Raimund Schmidt: „Das Miteinander ist das Ausschlaggebende, die Gemeinschaft und dass man mit der kompletten Familie seine Freizeit verbringen kann. Einer passt auf den anderen auf, die Kinder können laufen, das ist wie in einer Großfamilie.“ Seiner Tochter Linda ist ein weiterer Aspekt wichtig: „Auf dem Dorf gibt es viele Hobbies, von denen man als Frau nicht viel hat, etwa den Schützenverein. Auf der Freilichtbühne kann sich jeder verwirklichen, ob auf der Bühne oder dahinter bei Kostümen und Maske.“
Auf der Bühne beweist Schneewittchen inzwischen, dass sie ihr Glück selbst in die Hand nehmen kann, während die Zwerge dem schüchternen Willibald den entscheidenden Stups in Richtung Liebe geben. In den meisten Menschen steckt eben mehr, als sie ahnen. Und in Willibald schlummert ein wachsechter Prinz.
Das Familienstück „Schneewittchen – Traue keinem Spiegel“ feiert am 15. Juni Premiere. Die 1980er-Jahre-Show „Und es hat Zoom gemacht“ ist ab 22. Juni zu sehen. Termine und Karten: www.flbh.de