Hagen. Karnevalslieder fühlen der Gesellschaft auf den Puls. Sie vermitteln Heimatgefühl. Warum sie jetzt auch politisch Stellung beziehen.

„Ritsch, ratsch, de Botz kapott“ gehört zur unsterblichen Lyrik des Karnevals. Die Roten Funken singen diese Zeilen, während sie ihre Popos beim „Stippeföttche“ aneinanderreiben. Das Liedgut der tollen Tage wird in der Regel für selbstverständlich genommen und selten hinterfragt. Dabei ist der rheinische Fastelovend eines der kreativsten Musiklabore überhaupt. Woher kommt das? Eine Spurensuche.

Ein gutes Karnevalslied braucht Text, Melodie und Rhythmus, die so eingängig sind, dass man sie leicht lernt und auch nach dem 15. Bier noch mitsingen kann. Oft sind diese Zeilen lautmalerisch angelegt, so wie das legendäre „Humba Täterä“, welches das Wechselspiel zwischen dem Hupen der tiefen Tuba (Hum-ba) und dem hellen Schmettern der Trompeten imitiert. Der Mainzer Komponist Toni Hämmerle schrieb es für Ernst Neger. Die erste Aufführung am 5. Februar 1964 bei „Mainz, wie es singt und lacht“ ging in die TV-Geschichte ein. Die Sendung musste um eine Stunde überzogen werden, weil das Publikum völlig außer sich geriet und nicht aufhören konnte, zu singen.

Was ist ein Stippeföttche?

Hinter dem für Nicht-Rheinländer unverständlichen Begriff Stippeföttche verbirgt sich ein Tanzritual der Garden im Rheinland. Auf Kommando drehen die Gardisten einander den Rücken zu, gehen leicht in die Knie, recken (stippen) den Po (das Föttchen) nach hinten und reiben sich mit dem Gesäß aneinander. Ursprünglich sollten mit solchen Tanzritualen die umständlichen Zeremonien des preußischen Militärs verballhornt werden.

Karnevalslieder haben also Macht. In Köln ganz besonders, weil sie dort in Mundart angestimmt werden und schon allein dadurch ein besonderes Lebensgefühl spiegeln. Um 1500 soll die Nonne Anna Kölns erstes Karnevalslied notiert haben; ihr Liederbuch umfasste 82 Titel. Der Nonnenkarneval am Donnerstag wurde zum Vorläufer der Weiberfastnacht.

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In den 1970er Jahren kommt eine Qualität in die vom „Treuen Husaren“ und „Heidewitzka“ geprägte Gattung, die über den Aschermittwoch hinausgeht. Die Bläck Fööss erfinden das Karnevalslied neu, und zwar als Milieustudie. Ihre Songs spielen in den Hinterhöfen und Eckkneipen, dort, wo die vielen unterschiedlichen Kölner jeglicher Herkunft aufeinander treffen, einsam sind, sich lieben, lachen, weinen, feiern. Damit werden die Bläck Fööss und zeitgleich BAP zu den Wegbereitern der Kölschrockbands. Um die 60 Gruppen versuchen heute in der Domstadt ihr Glück beim Publikum. Viele davon muss man kennen: Neben den Bläck Fööss und BAP sind das die Höhner, Brings, die Räuber, die Paveier, Kasalla, Cat Balou, Miljö, die Micky Brühl Band um den ehemaligen Frontmann der Paveier und natürlich Los Tres Kasalleros, der Ballonseiden-Ableger von Kasalla.

Gefahr der Instrumentalisierung

Nirgendwo sonst wird auf geographisch so engem Raum derart generationenübergreifend musiziert. Die Traditionsbands haben ohne Identitätskrisen bereits mehrere altersbedingte Neubesetzungen überstanden. Die Musikstile sind so vielfältig wie das Leben selbst; sie wandeln sich im Laufe der Jahrzehnte und sprechen bewusst alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten an. Die Songs müssen tanzbar sein. Aber interessanterweise ist das Kölsche Lied dann am besten, wenn es ruhige Balladen erfindet.

In den Stücken wird vor allem das Heimatgefühl gefeiert: Köln, die Stadt mit K, mit dem Dom und den besonderen, vielfältigen Menschen, die seit der Römerzeit aus aller Welt an den Rhein wandern. Eine der schönsten Heimatballaden haben die Höhner im Jahr 2021 geliefert: „Die schönste Stroß op minger Reis, die führt noh Huss“ (Die schönste Straße meiner Reise führt nach Hause) mit Sätzen wie „do word mer klor, dat all ming Sehnsucht noh dä Fään nur Heimweh wor“ (Da wurde mir klar, dass meine Sehnsucht nach der Ferne nur Heimweh war).

Gerade die bekannten Kölner Bands sind politisch, sie engagieren sich für Integration, gegen Hass und vor allem gegen Nazis. Das Lied des Jahres 2024 ist ein Kooperationsprojekt von Querbeat und den Brings-Brüdern und heißt „Kein Kölsch für Nazis“. Dieses Engagement wird getrieben von der Erkenntnis, dass der Karneval und das Heimatgefühl der Kölschen Hits Gefahr laufen, von Rechtsradikalen instrumentalisiert zu werden. Seit 2018 beobachten die Bands immer wieder Versuche, ihre größten Hits im Sinne einer ausländerfeindlichen und rassistischen Ideologie zu missbrauchen, indem solche Gruppen etwa „In unserem Veedel“ auf ihren Veranstaltungen spielen. Der ursprüngliche gemeinschaftsstiftende Sinn der Lieder wird entleert, schleichend sickern rechtsradikale Ideologien in die vertrauten Melodien. Die Bands singen zwar zurück: „Loht unser Leeder en Rauh“ (Lasst unsere Lieder in Ruhe). Und Rolly Brings, der Vater von Peter und Stephan, widmete 2021 mit dem Lied „Shalom, Alaaf“ den Kölschen Kippa Köpp eine eigene Hymne.

Ausländerfeindliche Parolen auf der Karnevalsfeier

Aber die Frage bleibt, wie weit der Prozess noch umkehrbar ist. Vor einigen Tagen soll beispielsweise eine Gruppe bei einer Karnevalsfeier in Drolshagen ausländerfeindliche Sprüche skandiert haben. Die Tanzgruppe „Die Roten Funken Belmicke“ verwendet den Partyhit „L’amour Toujours“ für ihre Choreographie. Das Stück von Gigi D’Agostino aus dem Jahr 2001 dient inzwischen als Erkennungsmelodie von Rechtsradikalen. In sozialen Netzwerken dichten meist Jugendliche zur eingängigen und sehr tanzbaren Melodie Parolen wie „Deutschland den Deutschen. Ausländer raus“. Diese Videos verbreiten sich rasant im Netz.

Un dann will ich, dat ihr noch eimol op mich aanstoß Un dat ihr mieh Trone laach, wie ihr dann kriech (Und dann will ich, dass ihr noch einmal auf mich anstoßt, und dass ihr mehr Tränen lacht als weint).
aus „Wenn ich ne Engel bin“ von Kasalla

Wer einen Blick auf die jüngeren Hits wirft, stellt fest, dass melancholische Balladen den Ton angeben. Auch darin wird das Kölner Lied zum Spiegel der Gefühle einer Gesellschaft, die sich unerwartet mit Krisen konfrontiert sieht. Kasalla beschäftigt sich in gleich zwei Songs mit dem Tod. „Bunte Hungk“ ist ein Requiem für den früh verstorbenen Norbert Campmann von den „Räubern“, dem Vater von Kasalla-Frontmann Bastian Campmann. Kasallas „Wenn ich ne Engel bin“ ist praktisch die Fortsetzung dazu, eine Aufforderung, die Toten zu ehren, indem man das Leben feiert. Auch Brings schlagen mit „Lieblingslied“ wehmütige Töne an. Peter Brings singt eine Klavierballade über die Macht der Musik, über alternde Rockstars und Songs, die niemals alt werden. Miljö stellt mit „Et letzte Mol“ ein Vanitas-Stück mit musikalischen Choral-Anklängen vor, der Aufruf heißt: Carpe Noctem: Nutze die Nacht, solange Du kannst.

Darin besteht übrigens der Unterschied zwischen dem guten Kölner Lied und landläufigen Partyhits. Es steckt ernsthafte Überlegung in vielen Kölner Texten, die Musik kommt nicht aus dem Computer, sondern sucht nach einer eigenen Farbe. So reflektieren die Songs heute das Lebensgefühl einer verunsicherten Gesellschaft, die nicht mehr nur die „Superjeilezick“ kennt. Damit schafft das Kölner Karnevalslied in seinen besten Momenten auch mitten in der Krise wieder Heimat, Heimat in Liedern, die wie gute Freunde sind.