Hagen. Werden Skandale öffentlich, setzt in Medien schnell eine Überbietungsschlacht ein. Das ist gefährlich. Ein Plädoyer für Selbstkritik.

Die Missbrauchs-Debatte in der Ev. Kirche um Präses Annette Kurschus löst bei vielen Menschen, auch bei mir, ein großes Unbehagen aus. Denn die Rolle der Medien, also auch meine Rolle, wird immer öfter unklar und fragwürdig. Sind die Vorwürfe im Fall Kurschus verhältnismäßig? Jagt man eine unbescholtene Frau zum Teufel, weil sie vor 30 Jahren mit einer Familie befreundet war, wo der Mann nachträglich des Missbrauchs beschuldigt wird?

Es gibt Betroffene, die den Medien, also auch mir, vorwerfen, sich überhaupt nicht für sie und ihr Leid zu interessieren, sondern nur auf Skandal und Klicks zu schielen. Das ist nicht falsch. Wenn prominente Persönlichkeiten und das Stichwort Missbrauch zusammentreffen, setzt sozusagen eine Überbietungsschlacht ein.

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Aber: Auch EKD-Ratsvorsitzende, auch katholische Bischöfe, sogar Kardinal Woelki, haben das Recht, Fehler zu begehen und vor 30 Jahren Fehler begangen zu haben. Und sie haben auch das Recht, sich heute diesbezüglich ungeschickt oder widersprüchlich zu verhalten, jedenfalls beim ersten Mal.

Leider gewinnen solche Prozesse eine unheilvolle Eigendynamik. Es ist doch kein Zufall, dass ein selbsternanntes Leitmedium sich in kürzester Zeit bereits zweimal entschuldigen musste, wegen unsorgfältiger Recherchen. In einem Fall hatte das Medium behauptet, jemand habe eine antisemitische Hetzschrift verfasst, ohne Beweise dafür liefern zu können. Auch im Fall Kurschus stand diese Redaktion wieder an der Spitze.

Persönlich berichte ich seit 2010 über Missbrauch in der katholischen Kirche. Den Job habe ich nie gewollt, und ich weiß seither Dinge, die ich nie wissen wollte.

Aber ich habe viel gelernt. Zum Beispiel: Die Strukturen und Abhängigkeiten sind komplex, die Grauzonen groß. Wäre vor 30 Jahren jemand in die Redaktion gekommen und hätte uns anvertraut, dass ein Priester oder Jugendleiter ihm zwischen die Beine gefasst hätte, hätten wir ihn nach Hause geschickt. Alle Zeitungen hätten ihn nach Hause geschickt. Heute wissen wir, dass die Interessen der Betroffenen an die erste Stelle gehören.

Inzwischen hat sich eine kleine Industrie um das Thema gebildet. Anwälte wittern Chancen, einige Betroffene konkurrieren um Posten, Trittbrettfahrer möchten ihren Teil vom Kuchen. In dieser schwierigen Gemengelage den Überblick zu behalten und Sachlagen richtig einzuordnen, das ist die Aufgabe von Journalismus. Wir müssen über Hysterie berichten, nicht die Hysterie befeuern.