Hagen. 5000 mittelständische Unternehmen mit 500.000 Beschäftigten fühlen sich von der Bundesregierung ignoriert. Sie starten eine Kampagne.

Wer in Deutschland Rotorwellen für ein neues Windkraftrad schmiedet und weiterverarbeitet, kann dies offenbar kaum noch kostendeckend tun. Gleiches gelte für viele Produkte für die Energiewende, die Elektromobilität oder die Schieneninfrastruktur, die die 5000 stahl- und metallverarbeitenden Betriebe herstellen, die am Dienstag die Kampagne „Wir.Formen.Fortschritt.“ starteten. Eine ganze Branche mit ihren 500.000 Beschäftigten und bisher rund 80 Milliarden Euro Jahresumsatz scheint mit dem Rücken zur Wand zu stehen und wird dabei aus eigener Sicht von Entscheidern in der Politik geflissentlich übersehen und überhört. Was ein lautstarker Weckruf sein soll, wirkt angesichts der bedrohlich schlechten Zahlen mit einem durchschnittlichen Produktions-Minus von 4,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr und null Besserung in Sicht wie ein verzweifelter Hilferuf in Richtung Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesfinanzminister Christian Lindner.

WSM-Hauptgeschäftsführer Christian Vietmeyer plädiert für Energiepreise weitgehend ohne staatliche Aufschläge.
WSM-Hauptgeschäftsführer Christian Vietmeyer plädiert für Energiepreise weitgehend ohne staatliche Aufschläge. © WSM Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung e.V. | WSM / Mourad ben Rhouma

Deindustrialisierung wird spürbar

Die Produktion in Deutschland befindet sich weiter im Abwärtstrend. Im dritten Quartal ist sie gegenüber den Vormonaten noch einmal um 2,9 Prozent gesunken, berichtet am Dienstag das Statistische Bundesamt. Zum zweiten Mal in Folge. Das bedeutet Rezession. „Wir spüren eine schleichende Deindustrialisierung und sehen, dass die Aufträge Deutschland verlassen. Die großen Kunden ordern zunehmend im Ausland“, sagt Christian Vietmeyer, Chef des Wirtschaftsverbands Stahl und Metallverarbeitung (WSM) mit Sitz in Hagen.

Einer von vielen Gründen für die schwindende Wettbewerbsfähigkeit sei das Thema Preise für Strom und Gas, die zwischenzeitlich dreimal so hoch waren wie vor dem Beginn des Ukrainekriegs im Februar 2022. „Aktuell liegen die Kosten für Energie bei 12 bis 15 Prozent des Umsatzes“, sagt Thomas Hüttenhein, Chef des Hagener Unternehmens Schlager Industrieofenbau. Eine Belastung, die auf Dauer nicht auszuhalten sei. Früher seien es acht Prozent gewesen.

Ohne Mittelstand keine grüne Industrie

Gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Fachverbände der Branche organisiert der WSM die Kampagne, die das Trio an der Spitze der Bundesregierung wachrütteln soll, um zügig und langfristig verlässlich die Rahmenbedingungen für den deutschen Mittelstand zu verbessern – und nicht nur auf Großkonzerne zu blicken.

Bereits seit Monaten haben einzelne Verbände und Unternehmen aus der Branche wiederholt auf die aus ihrer Sicht existenzbedrohenden Rahmenbedingungen hingewiesen. Der Zusammenschluss von 13 Verbänden für die nun gestartete Kampagne wirkt beinahe wie der letzte Versuch, Gehör bei Scholz, Habeck und Lindner zu finden. Vielleicht noch rechtzeitig. Ohne die 5000 hier vertretenen Unternehmen werde die angestrebte Transformation zu „grüner“ Industrie in Deutschland nicht gelingen, warnen die Experten. Wenn die ersten Unternehmen abwanderten, werde die Welt keineswegs klimaneutraler, sagt WSM-Präsident Hubert Schmidt: „Die Energiekosten treffen uns genauso wie die Großen. In Berlin sieht man uns nicht, aber wir wollen gesehen werden!“

Bürokratiekosten so hoch wie für Forschung und Entwicklung

Die in Deutschland im weltweiten Vergleich relativ hohen Energiekosten sind aus Sicht des Mittelstands nicht das einzige Problem. Es klingt zwar wie die ewige Leier von Unternehmerseite, wenn zunehmende Bürokratie beklagt wird. Allerdings scheint Deutschland im Vergleich zu europäischen Nachbarn auf allen Ebenen bis ins Private den Gefallen an komplizierten und aufwendigen Gesetzesvorschriften nicht zu verlieren. In Summe fühlen sich viele Unternehmen, vom Kleinbetrieb bis zum Großunternehmen, offenbar bis zur „Lähmung“ gegängelt. Im Unterschied zu Konzernen mit mehreren tausend Mitarbeitenden binden Vorschriften rund um Datenschutz, Compliance, Menschenrechtsbeauftragten bis hin zu den mit dem Lieferkettengesetz verbundenen Pflichten in kleinen und mittelgroßen Betrieben relativ viel mehr Arbeitskraft. „Bürokratie in Deutschland ist ein Monster“, urteilt Ulrich Flatken, Geschäftsführer der Hagener Vogelsang Gruppe, die Verbindungselemente herstellt. Die Kosten für Bürokratie seien umgerechnet ebenso hoch wie die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in seinem Unternehmen. Außer in Deutschland ist die Vogelsang Gruppe auch in Frankreich, Tschechien, China und den USA vertreten.

Die Verunsicherung im Mittelstand ist offenbar nicht nur in den Chefetagen enorm. Bei weiter wachsendem Arbeits- und Fachkräftemangel sei es zunehmend schwierig, junge Menschen für eine Ausbildung zu begeistern. Und nun drohten auch noch bewährte Fachkräfte aus Verunsicherung in scheinbar krisensichere Branchen abzuwandern, sagt Thomas Hüttenhein: „Wir haben Beschäftigte, die umschulen wollen, um in Zukunft in der Pflege zu arbeiten.“

Zur nun gestarteten Kampagne des Mittelstands gehören nach Auskunft des Verbands WSM Informationen aus Betrieben im Internet, über Social-Media-Kanäle und Ende des Monats auch ein Besuch am Regierungssitz in Berlin, wie Vietmeyer ankündigt.