Hagen. Dem Hagener Kaltwalzunternehmen Bilstein gelingt erstmals die Teilproduktion mit Wasserstoff statt Erdgas. Welche Fragezeichen bleiben.

Die Industrie ist dabei, von Erdgas auf Wasserstoff umzurüsten. Technisch kein Kinderspiel, aber machbar. Auch für den Mittelstand, wie das Hagener Kaltwalzunternehmen Bilstein zeigt. Die Hürden liegen nicht im Werk selbst.

Grüner Wasserstoff soll perspektivisch über eine Pipeline vom Ruhrgebiet bis an die Lenneschiene und nach Südwestfalen gebracht werden. „Zukunft RuH2r“ heißt das Gemeinschaftsprojekt, das 2021 vorgestellt wurde und an dem neben der Bilstein Group weitere Unternehmen beteiligt sind, die sich mit der Umrüstung auf Wasserstoff beschäftigen. Zukunftsmusik ist es für alle – noch.

Wasserdampf statt CO2

Dass der Schritt zur Dekarbonisierung machbar ist, „wollten wir uns und der Welt beweisen“, sagt Christian Hagenkord, beim Hagener Unternehmen verantwortlich für Nachhaltigkeitsprojekte und die Energieversorgung. Das erste Pilotprojekt ist gelungen, Fragezeichen bleiben dennoch.

Kaltwalzen von Bandstahl ist eine Kunst, bei der auch Wärmebehandlung notwendig ist. Nur so erhält der kalt verformte Stahl die notwendige Struktur, um ihn optimal weiter bearbeiten zu können. Bei Bilstein am Stammsitz in Hagen-Hohenlimburg sorgen dafür Haubenglühen, die bislang kreisförmig mit Erdgas befeuert werden. Zwischen 500 und 800 Grad Celsius entstehen unter dieser Haube. Einfach einen Schalter umlegen und Wasserstoff durch die Brenner jagen ist allerdings eine Illusion. „Die Flamme beim Wasserstoff ist kürzer als beim Erdgas, und sie ist intensiver“, erklärt Hagenkord. Molekül ist nicht gleich Molekül. Strömungsgeschwindigkeiten, Druckverhältnisse, es gibt eine Reihe Unterschiede zwischen Erdgas und Wasserstoff als Energieträger. Zwei Jahre Forschung und Entwicklung stecken im Pilotprojekt. Die Brennertechnik stammt aus Dortmund von Kueppers Solution – „der bislang einzige Anbieter auf dem Markt“. Schlager Industrieofenbau aus Hagen leistete den Umbau der Haubenglühen, mit der Spie SAG war ein weiteres Unternehmen aus NRW beteiligt.

Der Test war ein voller Erfolg, aus dem Schornstein stieg reiner Wasserdampf statt CO² auf. Einhundert Tonnen Kaltband wurden klimaneutral mit Wärme behandelt. „Allein bei diesem Versuch haben wir so 3700 Kilogramm CO² eingespart“, sagt Hagenkord. Das zeigt auf, was in Zukunft möglich wäre. Bilstein hat in Vor-Corona-Zeiten immerhin 500.000 Tonnen Kaltband pro Jahr in Hohenlimburg produziert. Umgerechnet könnten also bis zu 25.000 Tonnen CO² pro Jahr vermieden werden.

Anlieferung von „Abfall-Wasserstoff“ per Lkw in Hagen. Noch fehlt eine Versorgung mittels Pipeline.
Anlieferung von „Abfall-Wasserstoff“ per Lkw in Hagen. Noch fehlt eine Versorgung mittels Pipeline.

Bis Ende dieses Jahres sollen zwei weitere Haubenglühen umgerüstet werden. Vor der Umrüstung stehen weitere Tests mit Brennern anderer Anbieter an. Zwischen 2024 und 2027 werden dann sämtliche Anlagen (auch Vergütelinien und Härteofen), für die Prozesswärme benötigt wird, auf den wahlweisen Betrieb mit Erdgas oder Wasserstoff umgestellt. Für den Mittelständler bedeutet dies eine Investition im zweistelligen Millionenbereich, über die frühestens zum Jahresende entschieden werden soll. Der Wasserstoff für das Pilotprojekt in Hagen wurde per Spezial-Tank-Lkw zum Werk gebracht. Er war weder grün noch blau oder grau, sondern ein Abfallprodukt aus der chemischen Industrie. Recycling sozusagen.

Wann sich die klimafreundliche Investition rentieren wird, steht in den Sternen. „Um diese Technologie langfristig wirtschaftlich nutzen zu können, sind wir auf Förderungen aus der Politik und zahlungsbereite Kunden angewiesen, denn aktuell liegen die Brennstoffkosten für das Glühen mit Wasserstoff rund sechs Mal höher als bei Erdgas“, so Christian Hagenkord. Die Herausforderung: Zum einen muss grüner Wasserstoff in ausreichender Menge zeitnah lokal zur Verfügung stehen. Zum anderen müssen die Kosten, die der energieintensiven Industrie für die Nutzung von Wasserstoff entstehen, wettbewerbsfähig sein. „Was hilft es, wenn in Deutschland und Europa Unternehmen ihre Prozesse auf grünen Wasserstoff umstellen und CO²-neutral produzieren, das gefertigte Material beziehungsweise die hier erzeugten Produkte aber nicht mehr auf den Weltmärkten absetzbar sind, weil etwa Wettbewerber in Asien und Nordamerika erheblich niedrigere Energiekosten haben“, sagt Hagenkord.

Mittelstand fehlt Entlastung

Ein spezielles Problem des deutschen Mittelstandes: Er wird seit 2021 bereits mit einer nationalen CO²-Steuer belegt. Große Konzerne in der Europäischen Union werden für ihren CO²-Ausstoß im ETS-Zertifikathandel zur Kasse gebeten. Für die höheren Kosten beim Strom werden zumindest zehn Branchen beim Strompreis entlastet, unter anderem die Stahlbranche. Im Zusammenhang mit der Umstellung auf grünen Wasserstoff ist dies wichtig, weil zur Herstellung mittels Elektrolyse enorm viel Strombedarf entsteht. Die Entlastung analog zu den „ETS-Firmen“ fehlt dem Unternehmen wie Bilstein bislang. Kommt sie nicht, dürften die Kosten für grünen Wasserstoff unwirtschaftlich hoch bleiben, vermutet Hagenkord.

Ob die Unternehmen am Standort Deutschland die Hürden der Dekarbonisierung unbeschadet überspringen, ist also noch ungewiss. Dennoch warten Mittelständler wie Bilstein nicht ab: Das Ziel bleibe weiter, bis spätestens 2035 CO²-neutral in allen Prozessen zu sein.