Soest. Über Flüchtlingsheime wird gestritten. Wie es sich dort lebt, weiß kaum einer. Das Ministerium will keinen Besuch, aber Yusuf gewährt Einblicke.
Jeden Abend, sagt Yusuf Demir (41, Name geändert), habe er einen der vier Stühle unter die Türklinke geklemmt. Zum Schutz seiner Familie. Vier Betten, vier Spinde, ein Tisch, 20 Quadratmeter. Niemand sollte nachts ins Zimmer kommen können. Niemand sollte seiner Familie schaden können. Seiner Frau, seiner Tochter und seinem Sohn. Das Leben hinter unverschlossenen Türen habe ihnen Angst gemacht. „Dort lebten auch gefährliche Menschen“, sagt er.
Yusuf Demir war einer von rund 800 Menschen, die Ende 2021 in der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) in Soest lebten. Männer, Frauen, Kinder. Alleinreisende, Familien. Aus u.a. Syrien, Afghanistan, Ägypten, Ghana, Somalia, der Türkei, mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und individuellen Geschichten. Menschen, über die in Deutschland gerade viel gesprochen wird – in einer dieser Sammelunterkünfte, über die oft hitzig diskutiert wird. Wie kürzlich im sauerländischen Oeventrop, wo eine Einrichtung am Protest der Bürger scheiterte.
Ministerium gestattet keinen Besuch in der ZUE
Doch wie leben die Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft? Das herauszufinden, ist gar nicht so leicht. Das NRW-Integrationsministerium gestattete dieser Redaktion keinen Besuch in einer der ZUE. Yusuf Demir gewährt uns daher einen der seltenen Einblicke.
Wenn er aus dem Fenster schaute, blickte er auf das Haus, in dem allein reisende Männer lebten. „Ich war glücklich, dass meine Familie nun in Sicherheit war“, erinnert er sich zurück, „doch dann sah ich dort auch Leute, die gefährlich waren.“ Er spricht von Männern, wegen denen des Öfteren die Polizei gekommen sei. Mal wegen einer verbalen Auseinandersetzung, mal wegen Handgreiflichkeiten. Mal wegen einer Schlägerei.
Ein Jahr in der Türkei im Gefängnis
Seine Kinder sahen in der Türkei bereits Schlimmes. „Im Jahr 2016 kam die Polizei gegen fünf Uhr morgens zu uns nach Hause und durchsuchte das ganze Haus“, sagt Yusuf, „meine Tochter kroch ängstlich unter unsere Bettdecke und weinte.“ Papa, bitte lass dich nicht wegnehmen, habe die damals Zehnjährige gesagt. Immer wieder. Vor den Augen seiner Liebsten sei er festgenommen worden, sagt Yusuf. Vorwurf: Er sei Mitglied einer bewaffneten Terrororganisation. „Die einzigen Beweise waren Cartoon-CDs meiner Kinder, zwei Bücher, die sie für anstößig hielten, und ein Röntgenbild, das in einem von der türkischen Regierung als Verräter eingestuften Krankenhaus der medizinischen Fakultät angefertigt wurde“, sagt er. „Es dauerte ein Jahr, bis ich wieder nach Hause kam.“
Deutschland sei einer der Staaten mit dem höchsten Maß an Menschenrechten und sozialer Unterstützung, sagt Yusuf. „Hier wollten wir uns ein neues Leben aufbauen – ein Leben ohne Angst.“ Wasser, Essen und Unterwäsche hätten sie eingepackt. „Wir konnten nur einen kleinen Rucksack mitnehmen“, sagt Yusuf. „All unsere Erinnerungen, Verwandten, persönliches Hab und Gut, unser Haus in Istanbul, unsere Karrieren, unsere Träume – all das blieb in der Türkei.“
„Wir haben die Kinder nicht allein im Zimmer gelassen“
Die ZUE Soest ist eine ehemalige Kaserne: hohe Gitterstäbe über dem Eingangstor. Hinter dem Tor mehrere Häuser, in den reinen Wohnhäusern habe es lange Flure gegeben mit vielen Zimmern. Zimmer, die man nicht habe abschließen können. „Wir haben unsere Kinder nicht allein im Zimmer gelassen“, sagt Yusuf.
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Aber seine Familie habe bekommen, was zum Leben nötig sei: Kleidung, Essen, ein Dach über dem Kopf. Etwas Taschengeld. In der Warteschlange habe es oft Streit gegeben. Alle zwei Wochen gab es 140 Euro für ihn und seine Familie. Kleidung, Körperpflegeprodukte, Unterhaltung – und manchmal auch ein Nahrungsmittel hätten sie sich davon gekauft. „Es gab Mahlzeiten am Tag, aber manchmal mochten wir es nicht.“
Eine offizielle Arbeitserlaubnis bekommen Geflüchtete nicht
Drei Mahlzeiten am Tag – zu festgelegten Zeiten. Deutschkurse und Freizeitangebote aufgrund der damaligen Corona-Beschränkungen nur sporadisch – und manchmal zu den Essenszeiten. Langeweile bestimmte den Alltag. „Du hast Zeit“, sagt Yusufs Frau, „sehr viel Zeit – aber keine Aufgabe.“ Denn eine offizielle Arbeitserlaubnis bekommen Geflüchtete, deren Status geprüft wird, nicht. Yusufs Frau ging zum Yoga-Kurs einer Sozialarbeiterin, lernte Deutsch und arbeitete als Dolmetscherin in der Kita. Innerhalb der ZUE ist es Bewohnern erlaubt, einer gemeinnützigen Arbeit nachzugehen – für ein paar Cent die Stunde: in der Kantine, in der Kleiderkammer, auf dem Gelände oder eben auch in der Kita.
„Meine Frau und meine Tochter haben zusätzlich an einem Online-Deutschkurs teilgenommen – viermal die Woche abends“, sagt Yusuf, „ich habe in der Zeit mit meinem Sohn gespielt. Wir haben unsere Erinnerungen aufgeschrieben. Meine Tochter hat sehr viel gezeichnet – auch mich bei meiner Festnahme in der Türkei.“
Yusuf drohen zehn Jahre Gefängnis in der Heimat
Über Jahre hinweg sei das Verfahren in der Türkei noch gegen ihn gelaufen. Seinen Job als Journalist habe er nicht mehr ausüben können. Seine Familie sei ausgegrenzt worden. „Inzwischen wurde auch meine Frau angeklagt“, sagt er, „wären wir dortgeblieben, säßen wir nun beide im Gefängnis.“ Yusuf für zehn Jahre, seine Frau für sechs. „Wir würden unsere Kinder nicht heranwachsen sehen, nicht bei ihnen sein, nicht für sie da sein.“
In schwierigen Zeiten in der Unterkunft dachte er oft an das Gefängnis in der Türkei. „In diesen Momenten wurde mir bewusst, wie wertvoll es ist, mit meiner Familie zusammen zu sein – egal wo.“
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Das habe die Einschränkungen im persönlichen Lebensbereich erträglicher gemacht. „Geht man aufs Gelände, läuft man Sicherheitsleuten in die Arme. Kommt man durchs Tor herein, darf man seine Hand nicht in der Hosentasche haben. Man muss seinen Ausweis vorzeigen – und seine Taschen durchsuchen lassen.“ Das sei ähnlich wie in einem Gefängnis. „Man wird registriert und fotografiert, wenn man einzieht. Mehrmals in der Woche öffnen plötzlich mehrere Sicherheitsleute ohne Vorwarnung deine Zimmertür und durchsuchen den Raum.“ Sie schauten nach verbotenen Gegenständen. Waffen, Elektrogeräte, auch Küchenmesser seien nicht erlaubt. An den Fenstern dürften keine Gardinen hängen. Brandschutz. „Ja, diese Lebensbedingungen erinnerten mich an das Gefängnis – aber es machte mich nicht unglücklich. Denn ich war bei meiner Familie und wir wussten, dass das bald enden würde.“
Geduldig sein, Kräfte sammeln
Sie träumten von den eigenen vier Wänden. Davon, dass die Kinder zur Schule gingen. Asylsuchende haben in der ZUE kein Recht auf Regelunterricht. Zwar habe es Lehrerinnen gegeben, die aus umliegenden Schulen in die Unterkunft gekommen seien, um die Kinder zu unterrichten – das seien aber nur „Häppchen Deutsch“ gewesen.
Die Zeit in Soest endete im März 2022 abrupt. „Plötzlich mussten alle umziehen“, sagt Yusuf. Die Unterkunft ist Soest sei im März 2022 in eine für Ukrainerinnen und Ukrainer umgewandelt worden. „Der Transfer in eine neue ZUE, in Rheine, war für uns eine völlige Enttäuschung. Aber wir mussten geduldig sein und sammelten noch einmal alle Kräfte.“ Auch die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ließ auf sich warten – die Grundvoraussetzung dafür, einen Aufenthaltstitel zu erhalten.
Insgesamt über acht Monate habe es gedauert, bis Yusuf mit seiner Familie in eine eigene Wohnung einziehen hätte dürfen. „Eine eigene Toilette, ein eigenes Badezimmer, ein Wohnraum, dessen Tür wir abends abschließen können und eine Küche, in der wir unsere eigenen Mahlzeiten zubereiten können – das sind ganz normale Grundbedürfnisse“, so Yusuf, „aber erst wenn du sie nicht mehr hast, wird dir klar, wie wertvoll sie sind.“
Zurück ins Leben
Heute sprechen alle vier Deutsch. Die Kinder ein bisschen besser als sie selbst, geben Yusuf und seine Frau zu. „Wir haben kürzlich eine Deutsch-Prüfung gehabt“, sagt Yusuf stolz, „im November beginnt der nächste Kurs.“ Ihr Wunschtraum: Schnell und gut lernen, damit sie bald arbeiten und „Deutschland etwas zurückgeben“ können. Gute Bürger sein können, wie Yusuf es sagt.
Ihre beiden Kinder gehen in die Schule. „Wir sind glücklich darüber – und Deutschland für alles dankbar. Wir fühlen uns wie neu geboren“, sagt Yusuf. „Wir könnten uns vorstellen, als Lehrer und Lehrerin in Integrationskursen zu arbeiten.“ Auch im IT-Bereich sehen sie gute Chancen.
Das Leben in einer Unterkunft sei schwer – viele Charaktere prallten aufeinander. Trotzdem, so sagt er, solle „der Gesetzgeber die allgemeine Einwanderungspolitik des Landes nicht aufgrund einiger störender Einwanderer“ ändern. „Unsere Tochter sagt immer: Die Türkei, unser eigenes Land, hat uns nicht verabschiedet – aber Deutschland, das Land der anderen, hat uns herzlich willkommen geheißen.“
Dessen seien sie sich bewusst. Sie dürfen – zunächst für die nächsten drei Jahre – in Deutschland bleiben. Dürfen endlich arbeiten. Eigenes Geld verdienen. Sich integrieren.