Iserlohn. Versuchter Totschlag, räuberische Erpressung: Solche Delikte stehen bei denen im Raum, die in Iserlohn zusammen wohnen. Wie das Leben dort läuft.

Luca ist eigentlich ein ganz normaler junger Mann. 17 Jahre alt, dünner Oberlippenbart, Umhängetasche. Manchmal gestattet er sich ein Lächeln, bei dem er auf den Boden schaut. Ihm wird ein Einbruch zur Last gelegt. Dazu kommen 22 Anklagen wegen Waffen- und Drogenbesitzes. Einen festen Wohnsitz, sagt er, habe er zuletzt nicht gehabt. „Meine Eltern sind in Haft, mein Bruder auch.“ Keine Regung.

Wohngruppe für jugendliche Straftäter: Vor Einflüssen der U-Haft bewahren

Neben ihm sitzt Mario, 18 Jahre alt, das kurz geschorene Haar ist schon wieder nachgewachsen. Ihm wird versuchter Totschlag vorgeworfen und schwere räuberische Erpressung. Wegen Waffen- und Drogenbesitzes ist er längst schon polizeibekannt. Er sagt: „Ich will mich bessern.“

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Deswegen ist er hier, deswegen sind beide hier. Sie sitzen auf dem großen Balkon eines alten Fabrikgebäudes in Iserlohn, in dem die Evangelische Jugendhilfe Iserlohn/Hagen ihre spezielle Wohngruppe eingerichtet hat: für Kinder und Jugendliche, die in ihrem jungen Leben schon erhebliche Straftaten begangen haben (sollen) und die nun auf ihre Hauptverhandlung vor Gericht warten. Für gewöhnlich müssten sie das in Untersuchungshaft tun: bei 23 Stunden am Tag in der Zelle und einer Stunde Freigang auf dem Hof.

Angebot „Stop and Go“: Das Telefon steht derzeit nicht still

„Stop and Go“ heißt das Angebot, das es jetzt schon seit 25 Jahren gibt und jugendliche Straftäter auf den Weg der Tugend führen soll. In Iserlohn, Herne und Neukirchen-Vluyn gibt es insgesamt drei darauf spezialisierte Einrichtungen in ganz NRW. In den anderen Bundesländern existiert nichts Vergleichbares, sagt die Jugendhilfe. „Es geht darum, Kinder und Jugendliche vor den schädlichen Einflüssen der U-Haft zu bewahren“, sagt Lena Bürger, 37 Jahre alt. „U-Haft bedeutet einschließen und verwahren und damit kein positives Entwicklungsumfeld.“

Gruppenleiterin bei „Stop and Go“: Lena Bürger.
Gruppenleiterin bei „Stop and Go“: Lena Bürger. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Lena Bürger ist die Gruppenleiterin und damit verantwortlich dafür, dass alles läuft. Einfach ist das nicht, aber wahrscheinlich, vielleicht, hoffentlich die Mühe wert. Nach der Corona-Pandemie ist die Jugendkriminalität wieder deutlich angestiegen, erstmals seit vielen Jahren. Das Jugendstrafgesetz sieht vor, dass Alternativen für die U-Haft geprüft werden müssen. Aber wirklich gute Alternativen sind rar. Von den acht Plätzen für Bewohner sind zur Stunde sechs belegt. Die Neuen sind schon im Anflug. „Das Telefon steht im Moment nicht still“, sagt Bürger. Die Anfragen kommen aus ganz NRW, aber auch aus dem Raum Hannover, Frankfurt, Kassel.

„Die meisten haben nie gelernt, wie sie Konflikte lösen können“

Montag, 16.30 Uhr, Gesprächsraum in der dritten Etage: die Sonne scheint durch die Fenster auf den Tisch in der Mitte, eine Flipchart steht in der Ecke, im Regal eine Holzhandwerkarbeit mit der Aufschrift: „Do all things with love“. Liebe ist nicht das vorrangige Gefühl der Jugendlichen, die dort sitzen. Oft ist es Wut. „Die meisten haben nie gelernt, wie sie Konflikte lösen und ihre Emotionen kontrollieren können“, sagt Lena Bürger. Für viele sei das ein weiter Weg. Den ersten Schritt können sie dort machen in sogenannten Settings, Gesprächsstunden zu bestimmten Themen: zu ihrem Verhalten, ihrer Geschichte, ihren Taten und was sie bei anderen auslösen.

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Emotionales Kompetenztraining steht auf dem Programm. Thema: Was passiert, wenn ich neu in eine Gruppe komme? Zum Beispiel in diese Wohngruppe. Wie fühlt man sich? Wie entwickelt sich das? Welche Phasen gibt es? Sechs junge Menschen, manche sehen so aus, als könnte man ihnen noch eine Freude mit einer Fahrt auf dem Kettenkarussell machen. Gegenseitig fallen sie sich ins Wort, wenn sie davon erzählen, was sie selbst im Arbeitstraining erschaffen haben: Ein Bettgestell repariert, Stühle geschliffen und lackiert, einen Holzvogel gefräst. Dort am Tisch sind sie ruhiger. Einer hebt zaghaft den Arm und sagt leise. „Erstmal hab ich Angst, was falsch zu machen.“

Jugendliche erhalten bei „Stop and Go“ die Chance, die sie nie hatten

Falsch haben sie alle schon zu viel gemacht. „Sie wären nicht hier, wenn sie nicht mit schweren Delikten auffällig geworden wären“, sagt Frank Müller (53), der Bereichsleiter, der bis 2016 selbst die Gruppe leitete. Kein Delikt, sagt er, wäre zu schwerwiegend, als dass es ein Ausschlusskriterium für die Aufnahme wäre, wobei bei manchen Delikten genauer hingeschaut werden müsse.

Bereichsleiter: Frank Müller.
Bereichsleiter: Frank Müller. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Es gibt sicher Leute, die sagen würden, dass vor allem jene, die Einsicht zeigen, diese Plätze erhalten sollten“, sagt Lena Bürger. „Ich bin anderer Meinung. Es sollten vor allem jene Fälle zu uns kommen, über die man sagt, dass bei denen nichts mehr hilft. Denn die schaffen es allein niemals.“ Frank Müller ergänzt: „Es sind Biographien dabei, bei denen man sagen muss: Dieses Kind, dieser Jugendliche hatte im Leben nie eine wirkliche Chance. Umso wichtiger, dass sie sie hier von uns erhalten.“

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Luca, dem der Einbruch zur Last gelegt wird, lebte früh schon in einer Pflegefamilie. „Das hat aber auch nicht gut geklappt“, sagt er. Keine Regung. Er war danach obdachlos und schlug sich mit Nächten bei Freunden durch. Manchmal klaute er sich seine Lebensmittel. Nachdem er verdächtigt wurde, an dem Einbruch beteiligt gewesen zu sein, kam er in U-Haft. Drei Monate lang. „Das Geräusch des Schlüssels in der Tür werde ich nicht vergessen“, sagt er.

Wohngruppe ist 24 Stunden am Tag besetzt - sieben Tage in der Woche

In Iserlohn lebt er wie die anderen in einem einfachen eigenen Zimmer. Die Wohngruppe bietet einen Kicker, eine Tischtennisplatte und Hanteln. Das Wohnzimmer mit Fernseher und Esstisch besteht aus Paletten, auf die Sitzkissen montiert wurden. Es gibt einen Telefonraum, in dem die Jugendlichen täglich bis zu 30 Minuten telefonieren dürfen. Familienbesuch ist bis zu vier Stunden am Wochenende möglich.

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Der Tag ist streng durchgetaktet: Frühstück um 6.30 Uhr, ab 8 Uhr Arbeitstraining, 13.30 Uhr Mittagessen, 19.30 Uhr Abendbrot. Dazwischen werden auch Dienste erledigt wie Bad und WC reinigen, Spülmaschine ausräumen, Zimmer aufräumen. Wer gut mitmacht, verdient sich zu den zwei Stunden Freizeit am Tag zwei Stunden Ausgang. Die Wohngruppe ist 24 Stunden am Tag sieben Tage die Woche - im überwiegenden Teil des Tages mit zwei - Mitarbeitern besetzt.

Die Messer sind das Problem: Mehr Fälle von versuchtem Totschlag

Mario war dreieinhalb Monate in U-Haft. „Als die Tür meiner Zelle zufiel, hab ich gedacht: „Sch…ße, wo bist du jetzt gelandet?“ Versuchter Totschlag wird ihm vorgeworfen. Keine Seltenheit mittlerweile, sagt Lena Bürger. Warum? „Viele Jugendliche tragen heute leider ein Messer bei sich. In manchen Vierteln ist auf diese Weise ein ziemlich hässlicher Kreislauf der Gewalt entstanden, weil alle das Gefühl haben: Ich brauche eines, um mich verteidigen zu können.“

Gesprächsrunde mit dem Thema „Emotionales Kompetenztraining“ mit Mitarbeiterin Pia Schulte (24).
Gesprächsrunde mit dem Thema „Emotionales Kompetenztraining“ mit Mitarbeiterin Pia Schulte (24). © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Wenn man im Knast Probleme hatte, sagt Mario, konnte man sich über eine Gegensprechanlage an die Wärter wenden. „Da hab ich aber nur Sch…ß-Antworten bekommen“, sagt er. „Die haben mich nicht ernst genommen. Hier habe ich mich vom ersten Tag an nicht so einsam gefühlt – und frei statt eingesperrt.“

Die Jugendlichen haben einen Schlüssel für ihr Zimmer, nicht für das Haus. Trotzdem: Wenn sie wollten, könnten sie jederzeit abhauen. Die Wohngruppe kann ein Pulverfass sein. Einerseits. Andererseits: „Die wissen alle, wohin die Reise geht, wenn das hier nicht funktioniert, wenn sie ausbüxen und nicht wiederkommen. Die wollen alle nicht zurück in Haft, sondern wollen eine gute Prognose von uns und eine Chance auf Bewährung“, sagt Lena Bürger.

Kosten für die Unterbringung bei „Stop and Go“ übernimmt die Justizkasse

Drei Warnstufen gibt es. Bei der dritten wird der Richter informiert. Die meisten aber schaffen es bis zum Ende. Durchschnittlich bis zu sechs Monate dauere der durchschnittliche Aufenthalt bis zur Hauptverhandlung. Die Kosten trägt die Justizkasse. „Das Schöne ist, dass die meisten hier irgendwann anfangen nachzudenken“, sagt Frank Müller: „Das merkt man richtig, dass sie sich fragen: Was soll aus mir werden?“

Ja, was eigentlich? Und wie?

Mario ist erst wenige Wochen in Iserlohn. Er sagt, dass er viel lernt. „Ich will Struktur in mein Leben bekommen. Ich war viel nachts wach und habe viel Sch…ße gebaut.“ Ein Praktikum fänd er toll, er könnte sich eine Ausbildung zum Garten- und Landschaftsgärtner vorstellen.

Luca nickt dazu. „Wenn man hier gut mitmacht, dann versteht man auch den Sinn dahinter“, sagt er. „Wenn ich das alles hinter mir habe, hoffe ich auf eine Ausbildung und eine Wohnung. Vielleicht mit meiner Mutter zusammen, wenn sie rauskommt.“ Raus aus dem Gefängnis.