Fröndenberg. Nach einer Routine-OP und Jahren der Schmerzen verliert Wioletta Wyrwol ihre rechte Hand. Wie sie mit ihrem Schicksal anderen Mut machen will.
Die Bilder aus der Zeit stecken in einem dünnen weißen Ordner. Bilder, die sofort verraten, wie viel Schmerz Wioletta Wyrwol ertragen musste. Eines zeigt ihre beiden Hände direkt nebeneinander auf dem Tisch. Aber sie ähneln sich nicht, weil die eine blau ist, geschwollen, kaum mehr als Hand zu erkennen. „Ich hatte Tag und Nacht höllische Schmerzen. Jede Berührung brannte wie Feuer.“ Sieben Jahre lang. Über 83 Operationen hinweg. „Aber ich habe nie aufgegeben, habe immer gekämpft“, sagt sie. Wie eine Löwin, die einarmige Löwin, als die sie nun anderen Mut machen will – als Social-Media-Bekanntheit.
Die Amputation setzt einem jahrelangen Martyrium ein Ende
Die 42-Jährige sitzt zu Hause in Fröndenberg am Esstisch. Ihre Prothese macht ein surrendes Geräusch, wenn sich die schwarz-weißen Plastikfinger aufspannen und vorsichtig schließen, um ein Glas zu halten. Sie hat ein bisschen Zeit gebraucht, bis sie damit zurechtkam, bis sie mit sich zurechtkam als junge Frau ohne Hand. Aber andererseits war dies der einzige Weg, ihrem Martyrium ein Ende zu setzen: den Schmerzen, der Scham. Alles nur wegen einer einfachen Operation.
Alles beginnt im Jahr 2013, als der Ellbogen der Erzieherin zu schmerzen beginnt und sie damit zum Arzt geht. Der sagt: Golfer-Ellbogen – und empfiehlt einen operativen Eingriff. Reine Routine eigentlich. Doch irgendetwas geht schief. „Ich habe eine lokale Betäubung bekommen, aber ich habe gespürt, wie sie den Ellbogen aufschneiden“, sagt sie. Sie hat Schmerzen, weint bei der OP, kann sich aber wegen des starken Beruhigungsmittels nicht zur Wehr setzen. So erzählt sie das.
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70.000 Euro Schmerzensgeld erstreitet sie später vor Gericht. In einem anderen Verfahren, das noch andauert, geht es um die Berufsunfähigkeit und den Haushaltsführungsschaden. Eine Rente bekommt sie schon heute. Geld hilft, macht aber nichts ungeschehen.
Was damals niemand weiß: Sie leidet im Anschluss an die Operation an CRPS (Complex Regional Pain Syndrome), einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom, das laut Deutscher Schmerzgesellschaft „noch nicht vollständig verstanden ist“. Die Krankheit könne im Anschluss an eine Verletzung auftreten. Die Ursache von CRPS könne bis heute nicht eindeutig geklärt werden. „Es besteht eine Kombination von entzündlichen und neurogenen Prozessen sowie Veränderungen im Bereich des Gehirns und Rückenmarks.“ Es dauert Wochen und Monate, bis sie die Diagnose erhält. Doch dann ist es schon zu spät.
Diese sieben Jahre wirken heute schon recht weit weg. Mit ihrem Mann Adam - von Beruf Krankenpfleger - hat Wioletta Wyrwol drei Kinder: Samuel (15), Noel (17) und Leon (19). Der älteste ist zehn, als die Odyssee beginnt, als die Mama ihre rechte Hand, mit der sie sonst alles erledigt, nicht mehr benutzen kann. Die Kinder seien schneller erwachsen geworden, sagen die Eltern. Der eine will demnächst Medizin studieren, der andere Jura, der dritte will Kommissar werden. Der ausgeprägte Sinn für Recht und Ordnung mag auch der Geschichte ihrer Mutter geschuldet sein.
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„Schon abends nach der OP habe ich gemerkt: Da stimmt was nicht“, sagt Wioletta Wyrwol. Sie spürt ihre Finger nicht mehr, hat starke Schmerzen unter dem Gips, den man ihr angelegt hat. Das sei nach einer OP normal, bekommt sie am nächsten Tag von den Ärzten zu hören – und glaubt den Medizinern zunächst. Obwohl auch der rechte Fuß zu schmerzen beginnt und taub wird – und bis heute ist.
Freunde wenden sich von der Familie ab
Doch nichts wird besser: im Gegenteil. Die Hand verfärbt sich blau, schwillt an, schmerzt unvorstellbar und ist doch taub, wie ein Fremdkörper. Sie kann die Hand nicht mehr benutzen, die Finger verkrampfen komplett, die Fingernägel bohren sich dabei in die Handinnenflächen. Zu den Schmerzen kommt die Scham. „Ich habe die Hand immer vor anderen versteckt“, sagt sie. Menschen, von denen die Familie dachte, dass es Freunde seien, wendeten sich in dieser Zeit von ihr ab.
Das erste Video ist nicht geplant. Samuel, der Jüngste, fertigt es von seiner Mutter an, als diese schon die Prothese trägt. Es geht viral, Millionen Menschen sehen es. Das ist die Geburtsstunde der „einarmigen Löwin“. So nennt sich Wioletta Wyrwol auf den Plattformen, so lautet auch der Titel ihres Buches, das sie geschrieben hat. Auf dem Social-Media-Kanal Tiktok hat Wioletta Wyrwol 70.000 Follower, bei Instagram sind es fast 50.000 Menschen, die sehen wollen, wie sie ihren Alltag meistert: ohne Hand, mit Prothese.
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„Tief in mir drin hatte ich mir schon länger nichts sehnlicher als die Amputation gewünscht“, sagt Wioletta Wyrwol heute. Bei über 50 Ärzten in ganz Deutschland sei sie in all den Jahren gewesen. Als eine erfolgreiche Therapie noch möglich war, blieb die Krankheit unentdeckt. Danach war es zu spät. Reha, Therapien, Mobilisation – alles vergebens. Der Zustand der Hand verschlechterte sich. „Die meisten Ärzte, bei denen ich war, hatten so etwas wie meine Hand noch nie gesehen. Irgendwann stand ich kurz vor einer Blutvergiftung. Ich war verzweifelt.“
„Ich wusste, dass der Tag der Amputation ein guter Tag ist“
2019 war das. Es ist die Zeit, in der ein Ärztegremium entscheidet, dass es keine Alternative zur Amputation gibt. Vier Stunden dauert die OP. Unterhalb des Ellbogens wird der Arm abgenommen. „Als ich aus der Narkose aufwachte, war das ein merkwürdiges Gefühl – aber auch ein gutes. Ich wusste, dass das ein guter Tag ist, dass sich mein Leben nun zum Guten wendet.“
Über Sensoren an den Muskeln steuert Wioletta Wyrwol ihre Prothese. Arbeiten wird sie nie mehr können. Manches geht nicht mehr, aber vieles eben doch wieder. „Ich meistere meinen Alltag schon wieder ziemlich gut. Die Hand ist ein Hilfsmittel, das jetzt zu mir gehört“, sagt sie, räumt aber ein, dass der Anfang trotz ihres Optimismus schwer war. Sie hatte ihre Hand verloren. Sie weiß noch, wie sie vor dem Spiegel stand und sich fragte, wie sie sich nun anziehen können würde.
Solche und andere Details zeigt sie in ihren Videos im Internet. Das hilft ihr selbst – und anderen, die in ähnlicher Lage sind und sich vielleicht schämen für ihren vermeintlichen Makel. Menschen, die sie nicht persönlich kenne, kämen auf sie zu und sprächen sie darauf an. Das ermutigt sie nach all den Horrorjahren. „Ich schäme mich jetzt nicht mehr. Ich zeige mich mit und ohne meine Prothese. Darauf bin ich stolz, das ist ein schönes Gefühl.“