Kirchhundem-Albaum. Heinrich Fischer ist 96 Jahre alt und kommt nicht von seinem Garten los, den er über Jahrzehnte schuf. Doch seine Oase im Sauerland ist bedroht.
Die Eiche ist meterhoch, vor allem aber ist sie 150 Jahre alt, erzählt Heinrich Fischer, zeigt mit einem seiner beiden Gehstöcke auf den enormen Baum, kichert und sagt dann: „Die kannte ich, da war die noch soooo klein.“
Die beiden, die Eiche und Heinrich Fischer, sind sozusagen zusammen aufgewachsen. Der Baum hat ein paar Jahresringe mehr, sicher, aber allzu viele sind es nicht, ist Heinrich Fischer doch fast 100 Jahre alt.
Er könnte vor dem Fernseher sitzen, sich schonen, nichts tun. Doch zu einem, der klagt, „Die Menschheit ist so faul geworden. Immer alles einfach im Laden kaufen“, würde das nicht passen. Auch deshalb ist er immer noch „jeden Tag im Garten. Ich lebe damit, mit der Pflanze“.
Am Abend vor dem Besuch hielt er sich dort bis 23 Uhr auf. Unkraut jäten, außerdem mähen, aufräumen. Für die Besucher. Der Rasenmäher ist dann irgendwann stehengeblieben. Heinrich Fischer aber geht und macht immer weiter. Auch mit seinen 96 Jahren.
Seine Leidenschaft erinnert an Hemingways Werk „Der Alte Mann und das Meer“. So, wie im preisgekrönten Kurzroman der Fischer Santiago den Speerfisch nicht loslassen will, so hängt in Kirchhundem-Albaum Heinrich Fischer an seinem Garten, den er über vier Jahrzehnte geschaffen hat. Er ist mit dieser „Oase“, wie er seine Schöpfung nennt, so verbunden, wie die alte Eiche gegenüber im Untergrund verwurzelt ist. Aber das Ende für seinen Garten ist wohl nahe. Das ist die Tragik dieser Geschichte.
Der Garten von Heinrich Fischer in Albaum
Bei Durst? Sauerampfer kauen
Als der Besuch zur verabredeten Uhrzeit klingelt, da ruft Heinrich Fischer erst mal: „Ein alter Mann ist kein D-Zug.“ Wenig später öffnet er die Tür, nach der Begrüßung bittet er darum, ihn im Auto von seinem Haus zum etwa 300 Meter entfernten Garten mitzunehmen. Es ist während des gut zweistündigen Termins das einzige Mal, dass der 96-Jährige Hilfe annimmt.
An zwei Gehstöcken schreitet er kreuz und quer durch seinen Garten, der einen halben Hektar umfasse. Er ächzt, macht (wenige) Pausen, manchmal kichert er. Sitzen will er nicht, etwas zu trinken schon gar nicht. Die jungen Leuten heutzutage würden so viel trinken, sogar zur Suppe... Er kaue lieber Sauerampfer.
Immer wieder zeigt er beim Rundgang durch seinen Garten, den er 1982 erworben und von einer Weide zu seiner Oase geformt hat, mit den Gehstöcken nach oben, unten oder zur Seite, auf Bäume, Sträucher, Zäune oder Schuppen. Alles sein Werk. Manchmal nutzt er den einen Stock, der einen gebogenen Griff hat, um sich am Rücken zu kratzen. Danach geht’s weiter.
Seltenheitswert und Natur pur
Bei der Auswahl der Pflanzen habe er darauf geachtet, dass sie zum Klima im Sauerland passen. Er setzt auf lokale Gewächse, aber nicht nur.
Hier, Japanische Drachenweide, sagt er und zeigt mit einem Gehstock auf einen Strauch. Da Flieder, „ganz normaler“, nicht veredelt, den habe keiner mehr. Hier ein Boskop-Baum, da Nordmann-Tannen, dazu tibetanische Birken, Johannisbeeren, Stachelbeeren – „die alte Sorte, grüne und gelbe Kugeln, auch nicht mehr zu finden“. Es geht querbeet, sozusagen.
„Hier“, sagt Heinrich Fischer an anderer Stelle, „haben sich die Wild-Erdbeeren wild gesät. Daran sehen Sie: Es wird nicht gespritzt.“ Natur pur.
Nächste Meldung: Bergamotte, „hat Seltenheitswert“. Dann: „Die Köstliche von Charneux“. Klingt erhaben, die Birnensorte hat Fischer aber nicht nur Freude bereitet. „Da war noch nie eine makellose Birne dran.“ Manchen Kampf verliert sogar der beste Gärtner. Auch wenn er so viel Erfahrung und ein offenbar derart bewegtes Leben hat wie Heinrich Fischer.
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Drei Jahre Kriegsgefangenschaft in Russland
„Ich habe mindestens eine Million Bäume in der Region gepflanzt“, sagt er, der in Albaum in dem Haus wohnt, das er in den Fünfzigerjahren des vorherigen Jahrhunderts selber gebaut habe – nach der Rückkehr aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Russland.
Als er 1948 wieder zu Hause war, habe er als Forstarbeiter gearbeitet, dabei von seinem Vorarbeiter auch die Veredlung von Obstbäumen gelernt. Es folgten Stationen als Elektriker, als Ladearbeiter (bei der Bahn in Kreuztal). Er erzählt von dem Wenigen, das sie hatten, und dem Vielen, das sie sich erarbeiten mussten. Es klingt nach einem Leben voller Arbeit. Dazu passen seine Hände. „Meine Pfoten stehen krumm“, sagt er und zeigt die Schwielen, die Ackerfurchen gleichen.
Wieder fährt einer der Gehstöcke hoch. Winterglockenapfel, „der trägt schon Früchte“, sagt Fischer. Er habe auch mal in einem Gartencenter gearbeitet, da sei er für Obst zuständig gewesen, „da kannte ich jedes Gewächs“. Äpfel und Birnen sind sein Thema.
Jetzt zeigt der ausgefahrene Gehstock auf einen italienischen Apfelbaum. „Nicht mein Fall, hat mir mal jemand empfohlen“. Ein weiterer Apfelbaum, könnte Prinzessin Viktoria heißen, meint Fischer, sicher ist er sich nicht. „Toller Name, aber geschmacklich nur für Apfelmus.“ Ontarioapfel, „mein haltbarster Apfel“.
Da oben, „ganz uralte Schafsnase“, rot gestreifter Apfel, im Geschmack sei der einmalig. „Die Schafsnase“, sagt Heinrich Fischer, „ist für mich der Apfel“.
Und jetzt aufgepasst.
Nur der Zahn der Zeit bremst ihn
Für den Besucher ohne grünen Daumen sieht’s wie Unkraut aus, was da aus dem Boden kommt. Heinrich Fischer aber, der von manchen Pflanzen noch die lateinischen Namen parat hat, sagt: „Hier ist mein Reichtum.“ Ackerschachtelhalm, Equisetum arvense, ein Kraut, das als Tee gut für Harnwege und Niere sei.
Weiter geht’s. Ein Strauch, Buxus sempervirens, war wohl mal geschnitten wie eine Hundefigur, die großen Ohren sind noch zu erkennen. Der Rest, mit der Zeit verwachsen. Wie vieles in diesem Garten, dessen Uhr abzulaufen droht.
Sein Schöpfer kann nicht mehr, wie er will und müsste, um alles in Schuss zu halten. Garten und Wege sind zugewachsen, Arbeitsgeräte liegen herum. In der Nähe der Teiche, in denen er früher Forelle und Rotauge gehalten habe, stapeln sich Brennholzscheite, eine umgekippte Schubkarre rostet vor sich hin. „Ich will noch so vieles machen“, sagt Heinrich Fischer, „aber ich weiß nicht, ob es noch klappt.“
Als er vor einem Wirsing- und Kartoffel-Beet steht, in dem er am Vorabend geschuftet hatte, macht er sich Vorwürfe. „Ich muss mich schämen. Durch das schlechte Wetter konnte ich die Kartoffeln nicht bearbeiten. So viel Unkraut“, sagt der 96-Jährige – und greift zu einer Harke, die am Rande des Beetes liegt. Seine Nachbarin Helga Müller kommt zufällig im Garten vorbei. Ob man Heinrich Fischer bremsen könne? „Überhaupt nicht“, antwortet die 82-Jährige. Gegen seine Leidenschaft ist kein Kraut gewachsen. Wäre da nur nicht der Zahn der Zeit.
Kinder, Enkel, Urenkel, aber keiner will wohl den Garten übernehmen
Fünf Kinder, elf Enkel und 19 Urenkel zähle er zu seiner Familie. Den Garten aber wolle keiner übernehmen. Seine Oase, in der Weihnachtsbäume im Wert von 10.000 Euro angepflanzt seien, stehe zum Verkauf. Sollte es so kommen, dann bleibt ihm ein – wenn auch schwacher – Trost.
Hinter seinem Wohnhaus, in dem auch sein Sohn lebt, geht’s nahtlos weiter mit der Gärtnerei. Hier finden sich in den Beeten Erdbeeren, Kartoffeln, Tomaten, Wirsing, Rhabarber, Zucchini, kaukasischer Riesenapfel, Bohnen, Himbeeren, Möhren oder Zwiebeln.
Wie hat Heinrich Fischer gesagt: Er lebt damit, mit der Pflanze.