Hagen. Noch nie sind so viele Katholiken aus der Kirche ausgetreten - auch in Südwestfalen. Pfarrer vor Ort über die Gründe und Gegenstrategien.
Stirbt die katholische Kirche vor den Augen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit einen quälenden Tod? So kommentiert der Münsteraner Kirchenrechtler Prof. Thomas Schüller die neuen schockierenden Austrittszahlen. Während das eher ländlich geprägte Erzbistum Paderborn im Vergleich mit Köln oder München noch wie eine Insel der Seligen scheint ( 26.911 Austritte in 2022; 10.000 mehr als 2021), trifft die Entwicklung das kleine Bistum Essen mit voller Härte: Nach 14.093 Austritten in 2022 gibt es nun nur noch weniger als 700.000 Katholiken in den multikulturellen Großstadtgesellschaften des Ruhrbistums.
Am härtesten macht sich der Austritts-Erdrutsch im Erzbistum Köln (51.345 Austritte) und im Erzbistum München und Freising (49.029) bemerkbar, gefolgt von Freiburg mit 41.802. Diese Rangliste entsteht nicht von ungefähr. In allen drei Bistümern gibt es erhebliche Verwerfungen angesichts des Umgangs der Institution Kirche mit dem Thema sexueller Missbrauch. In Köln ist die Vertrauenskrise besonders groß, sie macht sich am Verhalten des Obersten Hirten Kardinal Woelki fest; in München ist selbst der verstorbene Altpapst Benedikt in einen Missbrauchsprozess verwickelt, und Freiburg ist erschüttert angesichts der Enthüllungen, wie der bis dahin verehrte Altbischof Zollitsch Missbrauchstäter beschützt und Aufklärung verhindert hat. In Paderborn steht die Fertigstellung der unabhängigen Missbrauchs-Studie noch aus. Ihre Veröffentlichung dürfte ebenfalls einen neuerlichen sprunghaften Anstieg der Austrittszahlen zur Folge haben.
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Massenflucht
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Über die Ursachen der Massenflucht aus der katholischen Familie sind sich die Leitungen in Essen und Paderborn weitgehend einig, und auch in den Wegen, wie das verlorene Vertrauen zurückgewonnen werden kann. „Die derzeitige Vertrauenskrise der Katholischen Kirche in Deutschland schreitet auch im Erzbistum Paderborn weiter voran – das belegen die erneut dramatisch gestiegenen Austrittszahlen rein quantitativ. Kirche ist von ihrem Wesenskern her Communio, eine Gemeinschaft, in der jede und jeder Getaufte mit seiner Taufberufung zählt. Deshalb ist es ein tiefer Schmerz, wenn jedes Jahr mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren – aus den unterschiedlichsten Gründen“, so reagiert Prälat Thomas Dornseifer als kommissarischer Generalvikar in Paderborn auf die Zahlen. Das Erzbistum ist derzeit ohne Erzbischof. „Als einer dieser Gründe gilt absolut nachvollziehbar weiterhin die Missbrauchskrise.“
Klaus Pfeffer konstatiert, dass es nichts zu beschwichtigen gebe. Angesichts dieser Zahlen „scheint sich die katholische Kirche in Deutschland weiterhin im freien Fall zu befinden“, kommentiert der Generalvikar des Bistums Essen die Statistik. Dies überrasche ihn nicht „angesichts des zerrissenen Bildes, das unsere Kirche derzeit vermittelt“. Hinsichtlich des Skandals des sexuellen Missbrauchs „hat die breite Öffentlichkeit den Eindruck, dass wir widersprüchlich, unbeholfen und viel zu zaghaft den Weg der Aufklärung und Aufarbeitung gehen.“
Synodaler Weg als Zukunftschance
Essen und Paderborn setzen auf Erneuerung und unterstützen den Synodalen Weg als Zukunftschance. „Wir sind davon überzeugt, dass es große christliche Kirchen braucht, damit wir glaubende Menschen wirksam beieinander bleiben: In unserer katholischen Kirche und in Verbundenheit der Ökumene, weil die Zukunft des Christentums nur gemeinsam gelingen kann“, so Klaus Pfeffer. In Paderborn verweist Dornseifer auf die multiplen Ursachen der Krise: „Die hohen Austrittszahlen allein durch den Missbrauchsskandal zu erklären, würde jedoch die Gesamtperspektive verengen: Die Kirche als institutionell verfasste Gemeinschaft von gelebtem Glauben erfährt aktuell eine enorme Transformation, die sich im Relevanzverlust von Religion äußert und die mit vielen Um- und Abbrüchen im kirchlichen Leben einhergeht.“ Ein Trend erschüttere ihn besonders: „Menschen, die im Glauben fest verankert sind, entschließen sich zum Austritt aus der Kirche, weil sie keine Heimat mehr in der Kirche sehen.“ Dagegen hilft nach Meinung der Paderborner: „Wir können und müssen diese Transformation aktiv gestalten. Auf unserem Diözesanen Weg 2030+ der Bistumsentwicklung schauen wir mit einem ehrlichen Blick vor allem auf die Jahre nach 2030.“
Die Seelsorger vor Ort baden es aus
In der Fläche, auf Dekanats- und Gemeindeebene, müssen die Seelsorger ausbaden, was durch die großen Skandale angerichtet wird. Die Ursacheneinschätzung ist durchaus differenziert: „Die Skandale sind zur Zeit federführend, aber es gibt auch andere Gründe, warum Menschen austreten, Brüche in den Biographien, finanzielle Gründe. Es ist auch ein Erlahmen. Wenn ich es nicht praktiziere, dann verlerne ich es“, sagt Pfarrer Johannes Hammer, Leiter des Pastoralen Raums Olpe-Drolshagen: „Es ist traurig, aber ich bin nicht so deprimiert, dass ich sage, meine Arbeit macht keinen Sinn mehr. Die Leute sind ja nicht weg. Sie tauchen an anderer Stelle wieder auf, bei Lebenswenden, wenn sie ihr Kind taufen lassen wollen, wenn ein Angehöriger stirbt.“
Propst Dr. Reinhard Richter aus Brilon hält Themen wie Missbrauch nicht für stichhaltig als Erklärung: „Ich habe keine Fallstudien gemacht, vermute neben einer ,Gottvergessenheit‘, die stets zu einer Menschenvergessenheit der Menschen führt, einen lautlosen Auszug aus den Institutionen. Selbst Vereine bestätigen mir dieses. Letztlich ist jeder Kirchenaustritt ein biographischer Einzelfall.“ Zusätzlich sieht Richter die Kirchensteuerproblematik angesichts hoher Lebenshaltungskosten „als sehr lastend“ an.
Den Verein nicht mehr ertragen
Dechant Georg Schröder aus Schmallenberg verzeichnet in seinem Dekanat für 2022 eine Verdopplung der Austrittszahlen; in 2023 flacht die Kurve wieder etwas ab. „Keiner tritt aus, weil er nicht mehr an Gott glaubt. Es geht nicht um Gottlosigkeit. Die Menschen können den Verein nicht mehr ertragen, sie sagen: Mir reicht es, die Institution, die Machtausübung, die sexuelle Gewalt. Die Ausgetretenen glauben nicht mehr, dass sie in dieser Kirche ihren Glauben leben können.“
Möchte der Pfarrer angesichts der schockierenden Nachrichten nicht selber austreten? Georg Schröder: „Wir versuchen, mit allem, was wir können, gut mit den Menschen zu arbeiten, die da sind, eine Gemeinde zu bilden. Doch diese Geschichten, Woelki, Missbrauch, die konterkarieren alles.“