Arnsberg. Wenn alte Damen blank ziehen. Die Freilichtbühne Herdringen spielt „Kalender Girls“. Warum Familie dabei so wichtig ist.

Eine unternehmungslustige Witwe kann anstrengend sein, wer wüsste das besser als Vera Guntermann alias Annie. Selten ist auf der Freilichtbühne Herdringen so intensiv an den Rollen gefeilt worden wie für „Kalender Girls“. Trauer um einen geliebten Menschen, Freude, Streit, Lachen, Aufbruch, in die Emotionen reinkommen und dann wieder heraus, dazu richtig viel Text, das Timing muss stimmen: „Durch die intensive Körperarbeit und Rollenarbeit habe ich dieses Jahr viel gelernt“, konstatiert Vera Guntermann. Und das will etwas heißen, denn die 54-jährige Darstellerin ist geborenes Mitglied der Freilichtbühne Herdringen.

Probenszene aus den „Kalender Girls“ auf der Freilichtbühne Herdringen mit: von Links: Susanne Frank, Nicole Becker, Ute Sieland, Anna Kösters, Vera Guntermann und Denise Hoffmann.
Probenszene aus den „Kalender Girls“ auf der Freilichtbühne Herdringen mit: von Links: Susanne Frank, Nicole Becker, Ute Sieland, Anna Kösters, Vera Guntermann und Denise Hoffmann. © Freilichtbühne Herdringen | Maria Morlock

„Kalender Girls“ erzählt die Geschichte von Annie, die ihren Mann in den Tod begleitet und damit fertig werden muss, und ihren Freundinnen aus dem Frauenverein einer englischen Kleinstadt. Konservative, ja spießige Damen besten Alters, die für einen guten Zweck Geld sammeln und planen, einen Kalender mit Nacktfotos herauszugeben, für den sie selbst Modell stehen wollen. Die gleichnamige Filmkomödie von 2003 war ein riesiger Erfolg, Vera Guntermann tritt rollenmäßig in die Schuhe von Julie Walters und Darstellerin Denise Hoffmann (44) als Chris in die von Helen Mirren. Auch in den Profi-Schauspielhäusern sorgen die „Girls“ für ausverkaufte Vorstellungen. Doch auf den Freilichtbühnen macht sich der Stoff bisher rar: „Das Stück finde ich besonders, weil es eben nicht so ein typisches Freilichtbühnenstück ist, weil es ein intensiveres Schauspielstück ist, es nimmt einen auf eine Reise mit“, schildert Regisseurin Bärbel Kandziora.

Die 58-jährige aus dem hessischen Eifa hat ursprünglich Sport studiert, sie kommt aus der Akrobatik zum Theaterspiel, unterrichtet neben ihrer Regiearbeit auch einen Kinderzirkus und gibt Kurse. 2015 hat sie als Regisseurin in Hallenberg angefangen, jetzt ist sie parallel in der dritten Spielzeit in Herdringen und inszeniert neben den „Kalender Girls“ ebenfalls „Heidi“. „Man kann alles über Bewegung ausdrücken, Liebe, Trauer, man kann einem am Gang ansehen, wie er sich fühlt“, unterstreicht sie, und Denise Hoffmann ergänzt: „Umso körperlicher man ist, desto einfacher ist es zu spielen.“

Drei Stücke in dieser Saison

Drei Stücke stellen die Herdringer ihrem Publikum in dieser Saison vor, neben „Kalender Girls“ und „Heidi“ mit 60 Mitwirkenden im Alter von 8 Monaten bis über 80 Jahren auch „Camping, Koks und Hollywood“ der Jungen Bühne. Die Zahlen legen nahe, dass die Freilichtbühne keine Personalprobleme hat, rund 300 Mitglieder sind im Verein, davon wirken rund 220 aktiv vor und hinter den Kulissen mit. Denn vom Reinigen der Toilette über das Fegen des Zuschauerraums bis zum Parkplatzeinweisen wird alles ehrenamtlich und selbst gemacht. „Wir sind eine Familiengeschichte“, betont Vera Guntermann. „Es ist so schön zu sehen, dass auch die Neuen sich mit der ganzen Familie engagieren, der Papa regelt mit der Warnweste den Verkehr, Mama rennt über die Bühne, die Kinder sind mit dabei.“

Vera Guntermanns Kinder sagen immer: „,Mama, die Bühne ist dein erstes Kind‘, und das habe ich zu meinem Vater auch schon gesagt.“ Linda Voßbeck, die Herdringer Sprecherin, ist in der vierten Generation aktiv: „Für uns ist das kein Verein, für uns ist das unser zweites Zuhause.“ Regisseurin Bärbel Kandziora schätzt besonders, dass die Kinder von Anfang an auf der Bühne stehen und so spielerisch ins Theater hineinwachsen.

Umdenken beim Familienstück

Bei aller Treue deuten sich dennoch Probleme an. Erwachsene, die das Familienstück mitspielen können, sind nicht mehr leicht zu finden, denn die Vorstellungen werden morgens und nachmittags gegeben, aber tagsüber kriegen Arbeitnehmer heute nicht mehr frei. Die verlängerten Arbeitszeiten in vielen Berufen stellen ebenfalls eine Herausforderung dar. „Deshalb haben wir die Pläne geändert. Auch im Familienstück verlagert sich vieles auf das Wochenende. Wir müssen mit der Zeit gehen, stellen wir immer wieder fest“, sagt Vera Guntermann.

Neuen Darstellern macht die Bühne es leicht. Vera Guntermann: „Hierher kommen kann jeder. Auf gesellschaftliche Schichten oder Herkunft legen wir keinen Wert. Es ist ein zeitaufwendiges Hobby, aber finanziell ist es nicht aufwendig. Man wird kaum einen toleranteren Haufen finden als uns hier oben.“

Das ist eine Folge des Spiels, weiß Bärbel Kandziora. „Die Arbeit macht ja etwas mit einem. Sie verwandelt die Spieler. Manche Darsteller trauen sich ganz andere Dinge als früher, die sind viel offener. Diese Arbeit macht viel Persönlichkeitsbildung.“

Wechsel ins Charakterfach

Am Beispiel von Vera Guntermann kann man das gut beobachten. Erst vor wenigen Jahren wandelte sie als super sexy Ukulele-Spielerin Sugar Kane Kowalczyk auf den Spuren von Marilyn Monroe. Mit Annie spielt sie heute eine Frau jenseits der Wechseljahre mit pflegeleichter Kurzhaarfrisur und kleinen Wülsten um die Mitte, die ihren Mann begraben und danach ein neues Leben aufbauen muss. Charakterfach. Schauspielerisch eine völlig andere Nummer. Vera: „Man lernt auch, mit Emotionen umzugehen. Und man kann sehr dankbar sein, wenn man eine gute professionelle Regisseurin bei der Hand hat und von ihr lernen kann.“

Die Klos zu putzen ist übrigens genauso wichtig, wie die Hauptrolle zu spielen. Dieser Teamgeist macht den Zauber von Herdringen aus. Vera Guntermann bringt die Sache auf den Punkt: „Es geht nur mit allen zusammen.“

Das Stück „Kalender Girls“ feiert am 17. Juni Premiere; dafür gibt es noch Restkarten. Stücke und Termine: www.flbh.de