Schwerte. Jugendliche halten Gleisbereiche manchmal für einen Spielplatz – und begeben sich unwissend in Lebensgefahr. In Schwerte starb jetzt ein Junge.

Ein paar Schritte sind es nur. Vom Hindernisparcours des Motorsportclubs Schwerte zu den Gleisen, zum Güterbahnhof. Dutzende Waggons stehen da. Einen Zaun gibt es nicht, aber große Warnschilder: „Vorsicht Oberleitung“, steht darauf: „Maximale Durchfahrtshöhe 4 Meter“.

Es ist der Ort, an dem sich das jüngste Unglück abspielte.

Vor zwei Wochen hatten sich ein 13-jähriger Junge und seine Schwester (15) an die Gleise begeben. Er kletterte auf einen der Waggons, um Fotos zu machen – und kam der Oberleitung zu nahe. 15.000 Volt. In Worten: fünfzehntausend. Etwa 65 Mal mehr als eine herkömmliche Steckdose bereit hält. Der Junge wurde mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik geflogen. Dort verstarb er wenige Tage später.

Präventionsteam der Bahn zu mehreren Terminen in Altena

„Mich trifft eine solche Nachricht immer besonders hart“, sagt Jeff Dahlke, 35 Jahre alt, Vollbart. Er ist der, der dafür sorgen soll, dass solche Fälle nicht geschehen. Zusammen mit seiner Kollegin Dilara Ceviz bildet er seit drei Jahren das Präventionsteam in NRW. Sie sammeln Hinweise von Polizei und Bürgern, wo regelmäßig Menschen auf dem Gleis gesehen werden, fahren hin, klären mit Kampagnen auf. Wie neulich in Altena im Sauerland.

Eine Baustelle, die einen Umweg bedeutet, verleitet dort zuletzt immer wieder Bahnfahrer dazu, eine gefährliche Abkürzung zu nehmen. Die vergangenen drei Tage war Dahlke in einer Schule in Altena, Klasse 5 bis 9, um den Schülern die Gefahren zu erläutern, von denen sie teilweise nichts wissen.

Oberleitung: Strom kann ein bis zwei Meter überspringen

Er erzählt, dass man die Oberleitung nicht berühren muss, um einen tödlichen Schlag zu riskieren. Über einen Lichtbogen kann der Strom ein, zwei Meter überspringen. Dahlke erzählt, dass die neuen Züge leise seien und man nicht davon ausgehen könne, sie rechtzeitig zu hören; dass Züge einen enormen Bremsweg haben und eine Sogwirkung entfalten können, die Menschen zu nah am Gleis mitreißen kann.

Jedes Unglück ist eines zu viel – gerade für ihn. „Aber es motiviert mich auch, meine Arbeit mit vollem Engagement zu verrichten.“

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Mehrmals in der Woche befänden sich Kinder an oder auf den Gleisen, sagt Thorsten Buhrmester, Leiter der Lage- und Einsatzzentrale bei der DB Sicherheit, dem auch das Präventionsteam unterstellt ist. Fotoaufnahmen für Tiktok und Instagram, Freundschaftsbeweise, Mutproben – das sind die Motive.

Fälle zuletzt in Schwerte, Hannover, Osnabrück und Recklinghausen

Unwissenheit und Leichtsinn sind es, die Unglücke begünstigen. Beispiele gibt es genug, gerade zuletzt. Einen Tag vor dem Fall in Schwerte wird ein ebenfalls 13-jähriger Junge im niedersächsischen Langenhagen durch einen Stromschlag lebensgefährlich verletzt. Er ist mit einer Gruppe Gleichaltriger unterwegs und auf einen Waggon geklettert.

Am selben Tag klettern zwei 16-jährige Mädchen in Osnabrück auf einen Bahnwaggon. Weil sie dabei gesehen werden, die Oberleitung abgestellt und der Streckenabschnitt gesperrt wird, geschieht nichts.

Recklinghausen im Februar: Ein Zehnjähriger kommt ums Leben und ein Neunjähriger wird schwer verletzt, weil sie von einem Güterzug erfasst werden.

Kinder spielen „Subway Surfer“ – und verkennen die Gefahr im echten Leben

„Gleisanlagen haben immer schon etwas von Abenteuerspielplatz“, sagt Buhrmester, „in Zeiten von Social Media ist die gefährliche Kulisse nochmal verlockender. Gerade jugendlichen Mädchen gefällt das Bildhafte: die zwei Gleise, die endlos und untrennbar nebeneinander herführen, als Symbol für die gemeinsame Freundschaft.“

Mit einem Supermarkt suchte die Bahn das Gespräch, weil der Junge, der die beworbene Arbeitshose trug, im Prospekt auf einer Bahnschwelle stand. Viele Kinder und Jugendliche haben auf ihrem Handy eine App: Subway-Surfer. Ein junger Mensch springt dabei von Waggon zu Waggon. „Nicht hilfreich“, sagt Dahlke.

„Die Schranken und Zäune gehören in die Köpfe“

Welchem Risiko sie sich im echten Leben aussetzten, sei vielen gar nicht bewusst. Er merke das immer wieder, jetzt in der Schule. Viele Kinder seien darunter, die in ihren Familien noch nie etwas über das Thema gehört hätten.

Dass es mitunter – wie auch in Schwerte – viel zu leicht ist, vom öffentlichen Raum auf die Gleise zu gelangen, will Jeff Dahlke nicht so stehen lassen. „Allein die Deutsche Bahn hat mehr als 33.000 Kilometer Strecke. Die einzuzäunen ist fast unmöglich“, sagt er: „Die Schranken und Zäune gehören in die Köpfe der Menschen.“ Genau dafür will er sorgen.

>> INTERVIEW: „Jugendliche neigen zu riskantem Verhalten“

Nadia Wester kennt sich mit Jugendkultur im Zeichen der Digitalisierung aus. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Allgemeine Bildungswissenschaft an der Fernuniversität Hagen.

Warum begeben sich Kinder und Jugendliche relativ oft auf Gleise oder Waggons?

In der Wissenschaft wird davon ausgegangen, dass Jugendliche eher zu riskantem Verhalten neigen. Dies gehört zum Prozess des Einfindens in die Gesellschaft. Es geht um die Erprobung von sich selbst und der von Freundschaften zum Beispiel auch in Mutproben.

Nadia Wester, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fernuniversität Hagen
Nadia Wester, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fernuniversität Hagen © WP | Fernuni

Trifft das auf alle Jugendlichen zu?

Nein, manche neigen zu diesem Verhalten, andere nicht. In beiden Kontexten aber werden Medien und Soziale Medien relevant, weil sie den einen dazu dienen, sich selbst sichtbar zu machen, und den anderen, Orientierung zu finden: was machen die anderen und wie finde ich das?

Warum ist das Foto für Instagram oder TikTok so wichtig?

Zum einen geht es um das Motiv Anerkennung. Sie ist wichtig, um eine Persönlichkeit und Identität auszubilden. Zum anderen geht es um das Vergemeinschaften, was soviel heißt wie: Beziehungen aufbauen und pflegen. Jugendliche lösen sich von den Eltern und machen Dinge, die sie ihnen nicht erzählen. Sie erproben sich unter Gleichaltrigen, schaffen sich gemeinsame Erlebnisse. Und dieses Vergemeinschaften findet auch auf Social Media statt: durch Likes, persönliche Nachrichten, Kommentare.