Siegen. Notfallseelsorgerin Martina Schmitt ist bei tragischen Ereignissen im Einsatz. Wie im Fall Luise. Ein Interview über Freudenberg, Tod und Trauer.

Tod, Trauer, Leid. Die Schattenseiten des Lebens. Es ist nichts, mit dem man sich freiwillig beschäftigt. Martina Schmitt aber tut es. Sie ist Notfallseelsorgerin – im Ehrenamt.

Die 56-Jährige geht in den Einsatz, wenn Schlimmes passiert ist, wenn Hinterbliebene Unterstützung benötigen. Wie beispielsweise jüngst in Freudenberg.

Im Interview spricht Martina Schmitt, die sich beruflich für die Stadt Kreuztal um Obdachlose kümmert und Mutter dreier erwachsener Söhne ist, über ihre Tätigkeit als Notfallseelsorgerin und den schwierigen Einsatz im Fall Luise.

In Ihrem Ehrenamt haben Sie es mit Leid und Trauer zu tun. Warum sind Sie dazu bereit, Frau Schmitt?

Ich bin ehrenamtliche Notfallseelsorgerin aus voller Überzeugung. Ich sehe die Aufgabe als Geschenk an. Ich habe etwas gefunden, das mir liegt. Es ist ein schönes Ehrenamt.

Es ist eine wichtige Tätigkeit, die größten Respekt verdient. Aber wenn Sie auf der Straße zehn Menschen fragen, sagen wahrscheinlich elf…

(unterbricht) … dass sie das nicht machen wollen (lacht).

Was gefällt Ihnen an der Aufgabe?

Vielleicht hilft die Erklärung, wie ich dazu gekommen bin. Ich bin mehrere Jahre ehrenamtlich Rettungsdienst gefahren und habe nach einer erfolglosen Reanimation bei einer Frau festgestellt, dass es niemanden gab, der sich kümmert, in dem Fall um den Ehemann der Verstorbenen. Es gab keine Angehörigen, keine Nachbarn, und wir sind nach unserem Einsatz weggefahren. Das war kein schönes Gefühl, ihn alleine lassen zu müssen. Ein paar Tage später habe ich gelesen, dass die Notfallseelsorge einen neuen Ausbildungslehrgang für Ehrenamtliche startet. Daraufhin habe ich mich beworben.

Die lila Jacke der Notfallseelsorge bezeichnet Martina Schmitt als ihre „Einsatzuniform“.
Die lila Jacke der Notfallseelsorge bezeichnet Martina Schmitt als ihre „Einsatzuniform“. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Notfallseelsorger kommen zum Beispiel nach Unfällen zum Einsatz, nach Todesfällen, bei schrecklichen Ereignissen wie zuletzt in Freudenberg, als zwei Mädchen eine Gleichaltrige töteten. Sie sind dabei, wenn die Polizei die Todesnachricht überbringt, kümmern sich um die Betreuung der Hinterbliebenen. Wie laufen Ihre Einsätze genau ab?

In der Regel geht nur ein Notfallseelsorger in einen Einsatz, mit Polizei und Rettungskräften. Wir kommen in den intimsten Momenten in Familien rein, wir sind da, um den Hinterbliebenen beizustehen, bis die eigenen Strukturen wieder greifen. Eigentlich leistet Notfallseelsorge wirklich nur Akuthilfe. Es gibt aber schon mal besondere Einsatzlagen, die es erfordern, dass man ein zweites Mal zu den Hinterbliebenen geht. Wenn sich zum Beispiel der Ehepartner suizidiert hat und man die Todesnachricht spätabends überbringt. Nach einer Stunde oder zwei Stunden geht man – weiß aber, dass eventuell überhaupt nicht angekommen ist, was man gesagt hat. Wir bieten an, dass wir am nächsten Tag noch mal vorbeikommen, oder wir lassen eine Telefonnummer da, über die wir zu erreichen sind.

Wie oft kommt es vor, dass Sie noch länger im Einsatz sind, über Tage oder gar Wochen?

Das ist selten. Der Fall Luise zuletzt war eine Großeinsatzlage für uns. Wir waren mit unserem Team von Anfang an vor Ort, dazu kamen Notfallseelsorger aus Olpe und Iserlohn. An den Abenden waren wir in der evangelischen Kirche in Freudenberg präsent. Wir haben verschiedene Einsätze auch mit direkt betroffenen Menschen gehabt und waren auch bei der Trauerfeier im Einsatz. Wir haben gute Arbeit geleistet, aber es war ein sehr anstrengender Einsatz, weil er lange gedauert hat, weil man gefühlt jeden zweiten Tag nach der Arbeit nach Freudenberg gefahren ist und viele Telefonate geführt hat. Wir waren fast zwei Wochen lang in einer Dauerschleife.

Ihr Team gehört zum Evangelischen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein. Stehen Sie im Einsatz mit der Bibel vor der Tür und zitieren aus den Evangelien?

Nein, null. Bei uns gibt es auch katholische Kollegen, wir arbeiten überkonfessionell, betreuen zum Beispiel auch Muslime. Ich arbeite als Notfallseelsorgerin für die Kirche, aber ich missioniere nicht. Ich kam mal zu einem Einsatz, da schrie ein Hinterbliebener: ‚Ich will hier keinen scheiß Pfaffen haben.‘ Da habe ich gesagt: ‚Das passt gut, ich bin kein Pfarrer.‘ Hinterher haben wir gelacht. Auch deshalb sage ich, dass es eine so schöne, menschliche Arbeit ist. Ganz oft findet man etwas, worüber man lachen kann. Man bringt die Leute wieder ins Leben zurück – ein kleines bisschen, nachdem ihnen zuvor das Schlimmste passiert ist.

Wenn man nun beispielsweise daran denkt, was in Freudenberg passiert ist, dieses unvorstellbare Verbrechen, ist das nicht eine enorme Belastung, wenn man so nah dran ist wie Sie?

Ich möchte nicht viel zu Freudenberg sagen. In der Nacht, in der Luise als vermisst galt, war ich beruflich mit meinen Kollegen auf Streife für das Ordnungsamt, da bekamen wir mit, dass ein Kind vermisst wird. Ab da habe ich mich nicht mit der medialen Berichterstattung über den Fall beschäftigt. Schlimm war dann für mich, als ich am nächsten Tag zur Arbeit kam. Ich durfte nichts sagen, wir unterliegen der Schweigepflicht. Dann das verständliche Interesse von Kollegen und Bürgern, aber auch die Spekulationen und die teils reißerische Berichterstattung der Presse mitzubekommen, das hat mich fast zerrissen. Einer Notfallseelsorgerin aus unserem Team ist es genauso ergangen. Die hat auch gesagt, dass sie die Tür zumachen musste, weil sie das Gerede nicht ertragen konnte.

Ein Holzkreuz, zahlreiche Blumen, Kuscheltiere und Kerzen liegen am Tatort: Die Anteilnahme nach der Tötung der Zwölfjährigen Mitte März in Freudenberg war deutschlandweit enorm.
Ein Holzkreuz, zahlreiche Blumen, Kuscheltiere und Kerzen liegen am Tatort: Die Anteilnahme nach der Tötung der Zwölfjährigen Mitte März in Freudenberg war deutschlandweit enorm. © dpa | Federico Gambarini

Wie sieht es mit den Tragödien, den Abgründen aus, die Sie mitbekommen? All das können Sie ertragen und von sich fernhalten?

Ja, kann ich. Man muss als Notfallseelsorger gut loslassen können. Wenn ich von einem Einsatz nach Hause komme, ziehe ich die lila Jacke der Notfallseelsorge, meine Einsatzuniform, aus und hänge sie an den Haken. Das war’s. Ich schreibe meinen Einsatzbericht, und je nachdem, wie anstrengend der Einsatz war, telefoniere ich danach auch gerne noch mit einem Kollegen der Notfallseelsorge, um mich über das Erlebte auszutauschen. Es tut gut, in einem funktionierenden Team mitarbeiten zu können.

Sie betreuen Menschen aus unterschiedlichen Religionen und Kulturen. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Trauer ist sehr unterschiedlich, wobei das noch nicht mal von der Religion abhängt, eher von der Kultur. Es gibt Menschen, die trauern extrem laut. Das ist auch okay. Man muss sich als Notfallseelsorger nur bewusst sein, dass man nie weiß, was einen erwartet. Ich weiß zwar, wenn in der Einsatzmeldung etwa ein Suizid angegeben ist, dass sich zum Beispiel jemand erhängt hat. Mehr aber nicht. Es kann auch vorkommen, dass man von Hinterbliebenen unerwartete Sätze hört, zum Beispiel: ‚Gut, dass es vorbei ist, der hat genervt.‘ Da zuckt man natürlich erst mal.

Sie möchten helfen, sind aber zunächst eine Fremde. Wie reagieren die Menschen auf Sie? Und wie gehen Sie vor?

Auch das ist unterschiedlich. Ich sage Hinterbliebenen oft, dass ich für sie da bin, dass ich sie begleite. Ich frage, ob sie ein Glas Wasser haben möchten. Mir ist immer wichtig, dass die Leute etwas zum Festhalten haben. Da ist ein Glas Wasser gut, auch, weil Flüssigkeit dem Kreislauf hilft. Andererseits bin ich beispielsweise dagegen, dass Hinterbliebene Beruhigungsmittel bekommen. Zum Glück haben die Notärzte mittlerweile verstanden, warum wir das nicht möchten.

Trauer muss raus?

Ja. Und die sucht sich ihren Weg. Manche schreien, es ist auch schon vorgekommen, dass jemand mit Stühlen wirft. Auch Wut ist Trauer. Und Zorn. Die Leute müssen das dürfen. Wenn man das unterbindet, ist der Betroffene wie in einer Wolke, wie betäubt. Irgendwann geht diese Betäubung weg, aber dann ist vielleicht keiner mehr da, um sich um den Hinterbliebenen zu kümmern und die Trauerreaktionen auszuhalten und zu begleiten.

Es gibt auch Menschen, die wollen alleine trauern, ihre Ruhe haben.

Natürlich. Dann gehen wir wieder. Ich habe auch mal eine Dreiviertelstunde lang mit einem Hinterbliebenen in einem Raum gesessen und geschwiegen. Hin und wieder hat der Mann geweint, ich habe ihm ein Taschentuch gegeben, habe ihm kurz meine Hand auf die Schulter gelegt. Irgendwann guckte er dann hoch und sagte zu mir: ‚Frau Schmitt, vielen Dank, dass Sie hier waren. Das hat so gutgetan.‘ Das war unfassbar. Aber genau das finde ich so schön, wenn die Leute auf ihr Bauchgefühl hören, wenn sie sich das gönnen, was sie in dem Moment brauchen.

Auch bei der Trauerfeier für die getötete Luise am Schulzentrum in Freudenberg im März kamen Notfallseelsorger zum Einsatz.
Auch bei der Trauerfeier für die getötete Luise am Schulzentrum in Freudenberg im März kamen Notfallseelsorger zum Einsatz. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Wir haben über die Trauer von Erwachsenen gesprochen. Wie aber ist das bei Kindern?

Ich habe es schon erlebt, dass zum Beispiel ein Opa verstorben ist. Der Leichnam liegt dann manchmal noch im Haus. Die Kinder werden erst mal weggesperrt, um sie – vermeintlich – zu schützen. Ich erkläre den Kindern, was passiert ist – und muss dann erst mal den Erwachsenen erklären, dass die Kinder meist sehr gut mit der Situation umgehen können. Ich sage Erwachsenen manchmal, dass sie sich ein Beispiel an den Kindern nehmen können. Kinder machen nur das, was sie wirklich aushalten können. Wenn sie etwas mitbekommen, mit dem sie nichts zu tun haben wollen, gehen sie weg.

Wie reagieren Eltern, wenn Sie solche Tipps geben?

Ich frage natürlich am Anfang, ob ich mit den Kindern sprechen darf. Die schwierigste Aufgabe ist, die Eltern davon zu überzeugen, dass die Kinder zum toten Opa dürfen, um sich zu verabschieden. Kinder wollen begreifen, im wahrsten Sinne des Wortes. Kinder müssen fühlen, dass der Opa nichts mehr macht, dass er etwas anders aussieht, dass es aber trotzdem ihr Opa ist. Ich wehre mich immer nur gegen eines: Wenn Eltern den Kindern sagen, der Opa schläft jetzt.

Wieso?

Wir hatten mal den Fall, dass ein Kind nach dem Tod seines Opas nicht mehr schlafen wollte, und die Eltern wussten nicht, warum. Es stellte sich raus, dass dem Kind gesagt worden war, dass der Opa nur schläft. Für das Kind bedeutete das aber: Wenn ich jetzt einschlafe, wache ich vielleicht auch nicht mehr auf, so wie der Opa. Seitdem widerspreche ich bei solchen Sätzen.

>> INFO: 18 Teammitglieder – rund um die Uhr einsatzbereit

  • Das Notfallseelsorge-Team Siegerland ist beim Evangelischen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein angesiedelt und rund um die Uhr einsatzbereit. Das Team besteht aus 18 Mitgliedern. Die zehn Frauen sind ehrenamtlich tätig, ebenso vier Männer. Dazu kommen vier Pfarrer (einer davon im Ruhestand).
  • Martina Schmitt ist gelernte Apothekenhelferin. Sie sagt, dass der Beruf für die Tätigkeit als Notfallseelsorger keine Rolle spiele. Zum Team gehörten ein Lehrer, Sozialarbeiter, ein Architekt. Es gehe vor allem darum, gut zuzuhören und empathisch zu sein.
  • Die Ausbildung – in Module und in Abend- und Tageseinheiten unterteilt – geht über sechs bis sieben Monate und wird vom Fachbereich Seelsorge am Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung (IAFW) der Evangelischen Kirche von Westfalen angeboten.