Hagen. In Wittgenstein soll eine neue Talsperre entstehen. Müssen in Zeiten des Klimawandels weitere folgen? Das ist die Antwort des Ruhrverband-Chefs

Nach dem trockenen Sommer 2022 ist die Lage an den Talsperren in der Region wieder komfortabel, überdurchschnittlich gut sogar. Zu 95,8 Prozent waren die acht Gewässer des Ruhrverbandes zuletzt im Schnitt gefüllt. Im Vergleich zum langjährigen Mittel sind die Talsperren aktuell sogar etwas voller als zu dieser Jahreszeit üblich (plus 4,9 Prozent). Gute Voraussetzungen also, um gewappnet zu sein für erneut mögliche Dürreperioden in Frühjahr und Sommer. Dennoch steht die Frage im Raum: Reicht das? Reichen die vorhandenen Talsperren aus, um die Folgen des Klimawandels in der Region zu bewältigen, oder braucht es zusätzliche Talsperren?

Im Interview bezieht der Vorstandsvorsitzende des Ruhrverbands, Professor Dr.-Ing. Norbert Jardin (63), eindeutig Stellung.


Klimawandel, Trockenheit, Dürre: Herr Professor Jardin, braucht es weitere Talsperren?

Wir benötigen keine neuen Talsperren, das kann man für das Ruhreinzugsgebiet ohne Zweifel so formulieren. Aber es braucht eine Reaktion auf die Konsequenzen des Klimawandels, auch bei der Trinkwasserversorgung aus den Ruhrtalsperren, die das Trinkwasser für 4,6 Millionen Menschen liefern. Wir haben inzwischen 14 Jahre mit unterdurchschnittlichen Niederschlägen im Einzugsgebiet erlebt. Wir benötigen daher eine andere Steuerung der Talsperren.

Professor Dr.-Ing. Norbert Jardin (63) ist Vorstandsvorsitzender des Ruhrverbandes.
Professor Dr.-Ing. Norbert Jardin (63) ist Vorstandsvorsitzender des Ruhrverbandes. © Ruhrverband

Eine andere Steuerung: Was bedeutet das konkret?

Unsere großen Talsperren, insbesondere die Möhne- und die Biggetalsperre, dienen nicht direkt der Trinkwasserversorgung, es gibt keine direkte Leitungsverbindung zum Wasserwerk. Sie liefern stattdessen in den Zeiten, in denen die Ruhr natürlicherweise wenig Wasser führen würde, entsprechende Zuschusswassermengen, damit die Wasserwerke genügend Wasser entnehmen können. Der Gesetzgeber hat die Steuerung dieser Talsperren so geregelt, dass an zwei Querschnitten der Ruhr – in Hattingen und Schwerte – ein bestimmter Mindestabfluss nie unterschritten werden darf. Diese Werte liegen in Schwerte bei 8,4 Kubikmeter pro Sekunde und in Hattingen bei 15 m³/s. In Zeiten des Klimawandels ist das deutlich zu hoch, wir wollen den Mindestabfluss um je drei Kubikmeter pro Sekunde reduzieren. Wir sind dazu mit dem Umweltministerium seit inzwischen eineinhalb Jahren in intensiven Gesprächen.

Welche Auswirkung hätte es, wenn Sie im Sommer weniger Wasser aus den Talsperren in die Ruhr abgäben?

Die eine Frage ist, ob die Ökologie der Ruhr gefährdet wäre; niedriger Abfluss bedeutet oftmals eine höhere Stoffkonzentration -- zum Beispiel Arzneimittelrückstände oder Nährstoffe wie Phosphor und Stickstoff – im Wasser. Das haben wir uns sehr genau angeschaut, auch mithilfe einschlägiger Experten. Die zweite Frage ist: Was bedeutet eine Absenkung des Mindestabflusses für die Trinkwassergewinnung, sinkt dann möglicherweise der Wasserspiegel der Ruhr kritisch ab? Der Wasserspiegel würde um wenige Zentimeter sinken. Die Auswirkungen bei den Stoffkonzentrationen sind marginal.

Wie sieht es mit den Auswirkungen auf die Natur aus, etwa die sogenannten Fauna-Flora-Habitat-Räume (FFH), die EU-weit besonders geschützt sind?

Laut unserer Analyse könnte möglicherweise ein FFH-Gebiet im Bereich der oberen Ruhr betroffen sein. Es geht da um zwei Fischarten, die Groppe und das Bachneunauge. Wir haben uns bereit erklärt, Kompensationsmaßnahmen durchzuführen, um diese Arten zu schützen. Etwa die Wiederherstellung der Durchgängigkeit von bestimmten Nebengewässern, um Rückzugsorte für Groppe und Bachneunauge zu schaffen.

Wie reagieren Politik, aber auch Naturschützer auf Ihren Vorstoß?

Von den Landtagsfraktionen von CDU, FDP, SPD und Grünen haben wir große Zustimmung geerntet. Vom BUND werden durchaus kritische Fragen gestellt. Aber in Abwägung der Gefahren – eine gefährdete Trinkwasserversorgung auf der einen Seite und die doch eher geringen theoretischen Auswirkungen unseres Vorschlags auf die Ökologie und die Wasserqualität andererseits – gibt es auch da eine grundsätzliche Zustimmung.

Das Einzugsgebiet der Ruhr mit den acht Talsperren des Ruhrverbandes.
Das Einzugsgebiet der Ruhr mit den acht Talsperren des Ruhrverbandes. © WP Zentrale | Manuela Nossutta/Funkegrafik NRW

Warum ist Ihr Vorhaben dann noch nicht umgesetzt worden?

Das ist ein Stück weit dem Umstand zu verdanken, dass wir im vergangenen Jahr eine Landtagswahl und einen Regierungswechsel hatten. Es gab einen finalisierten Gesetzesentwurf, der vor der Wahl aber nicht mehr verabschiedet werden konnte.

Sie wollen die Menge des Wassers reduzieren, das aus den Talsperren in die Ruhr abgegeben wird. Wieso aber erhöhen Sie nicht die zur Verfügung stehende Wassermenge, indem Sie weitere Talsperren bauen?

In den Achtzigerjahren hat der Ruhrverband ein solches Vorhaben einmal auf den Weg gebracht, den Bau der Negertalsperre im Hochsauerlandkreis. Das wäre sicherlich eine denkbare Variante. Wobei fraglich ist, ob heutzutage eine Talsperre reichen würde. Es gibt in unserer dicht besiedelten Region aber nicht viele Standorte, an denen es nennenswerten Platz für zusätzliche Talsperrenvolumen gäbe. Außerdem stellt der Bau einer Talsperre einen massiven Eingriff in die Region dar, für Mensch und Natur. Es macht daher wenig Sinn, Talsperren neu zu bauen, wenn man auf eingriffsärmere Art die Klima-Resilienz sicherstellen kann. Man muss dazu auch wissen, dass die Talsperren des Ruhrverbandes ursprünglich auf ganz andere Wasserentnahmen aus der Ruhr ausgelegt waren. Wir haben es seit 1980 mit einer Halbierung der Wasserentnahme zu tun, was im Wesentlichen damit zu tun hat, dass die Industrie in Folge des Strukturwandels deutlich weniger Wasser benötigt als früher.

Im Landesentwicklungsplan NRW werden acht mögliche neue Talsperren gelistet, unter anderem die Truftetalsperre, die der Kreis Siegen-Wittgenstein auf dem Gebiet der Stadt Bad Berleburg plant. Weichen Sie mit Ihrer Haltung nicht völlig von solchen Einschätzungen ab?

Nein, die Einschätzungen sind im Gegenteil deckungsgleich. In Siegen-Wittgenstein ist die Motivation für den Bau einer neuen Talsperre sehr nachvollziehbar, da geht es unmittelbar um die Trinkwasserversorgung. Für unser Gebiet ist das Ergebnis: Wir benötigen keine neue Talsperre.

Stichwort Energiewende: Welches Potenzial sehen Sie für den Ruhrverband bei der Stromerzeugung?

Mit unseren Anlagen – Wasserkraft, Photovoltaik und Biogasnutzung in unseren Kläranlagen – erzeugen wir schon jetzt fast genauso viel Strom in der Jahresbilanz, wie wir für den gesamten Ruhrverband benötigen. Das sind rund 94 Gigawattstunden pro Jahr. Wir könnten locker die doppelte Menge Strom produzieren. Wir dürfen aber nicht. Gemäß der Verbandsgesetze in NRW dürfen die Wasserverbände Strom nur für den Eigenbedarf produzieren. Diese Begrenzung würden wir gerne relativieren. Dazu gibt es erste Gespräche mit Umweltminister Oliver Krischer. Die Wasserwirtschaft insgesamt in NRW könnte einen substanziellen Beitrag zur Energiewende leisten und das Ziel der Landesregierung, klimaneutral zu werden, massiv unterstützen.

Was spricht gegen eine Gesetzesänderung?

Aus meiner Sicht nichts. Aber wenn Sie bei RWE oder anderen Energieerzeugern nachfragen, könnten die das Gefühl haben, dass da ein weiterer Akteur auf den Markt tritt. Wir wollen aber kein Energieerzeuger werden, schon gar nicht in der Liga der großen Energieerzeuger.

Hintergrund:

Neben fünf Stauseen (Hengstey-, Harkort-, Kemnader, Baldeney- und Kettwiger See) betreibt der Ruhrverband acht Talsperren mit einem Gesamtvolumen von 463 Millionen Kubikmetern. Bezogen auf ein einzelnes Flussgebiet – das der Ruhr – ist dies das größte zusammenhängende Talsperrensystem in Deutschland, erklärt der Verband. Hauptaufgabe ist die Sicherung der Wasserversorgung für 4,6 Millionen Menschen sowie Gewerbe- und Industriebetriebe. Auch aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte im Ruhrgebiet liege der Wasserverbrauch je Flächeneinheit etwa siebenmal höher als im Bundesdurchschnitt.