Meschede. Immer mehr Friseure bieten den schweigsamen Haarschnitt an. Marketing-Gag oder gute Idee? Zu Besuch in einem Salon, in dem Reden Gold ist.
Die Bahn. Die geht immer. Klassisches Aufregerthema. Der Mann auf dem ledernen Stuhl erzählt beim Blick in den Spiegel von seiner Dienstreise. Und davon, dass Haltestellen einfach ausgelassen worden seien. Und Anschlusszüge verpasst wurden. Und die Bahn? Tja, die lässt für jeden als Entschädigung ein Tetra-Pak Wasser springen. „Gibt’s doch nicht!“
Eine Frau kommt in den Laden, Schneeregenflocken auf dem Mantel. Gebrauchter Tag, sagt sie. Erst die Brille kaputt, dann…! Der Rest geht im Getöse eines Föhns unter.
Neuer Trend beim Friseur: Schweigen beim Schneiden
Ob ich keinen Friseur habe, dem ich das erzählen kann? Doch. Aber es gibt da jetzt einen neuen Trend. Silent Cut heißt der. Was klingt wie eine vornehm zurückhaltende Frisur ist in Wahrheit etwas, das Kunden jetzt immer öfter buchen können: ein Haarschnitt, bei dem nicht gesprochen werden darf.
Kein Smalltalk.
Einfach Schweigen.
Guter Marketing-Gag? Oder großer Unsinn? Silent Cut – wir müssen reden!
Der Bahnfahrer und die Brillengeschädigte sitzen im Salon „Haupt“-Sache von Rosa Maas in Freienohl, einem Stadtteil von Meschede im Hochsauerland. Wer da wohnt, gilt gemeinhin nicht zwingend als geschwätzig. Ist der Silent Cut vielleicht in Wahrheit versehentlich dort erfunden worden, ohne dass man das gewusst hätte? Nein. Der Trend ist offenbar zu turbulenten Corona-Zeiten in London entstanden und schwappt nun über Berlin in westdeutsche Großstädte wie Köln, Essen und Dortmund.
In Hagen gibt es das Angebot bereits schon
„Unter den Friseuren gibt es erhitzte Diskussionen dazu“, sagt Friseurmeisterin Rosa Maas und schüttelt den Kopf. „Wir bieten das nicht an. Wir sind hier auf dem Land, jeder kennt jeden. Wir freuen uns, dass man sich trifft. Diese Vertrautheit gibt es in größeren Städten nicht. Das ist vermutlich der Unterschied.“
Hagen ist größer. Und siehe da: Im Salon „Haargenau Catwalk“ wird das schweigsame Schneiden seit drei Wochen angeboten – durchaus mit Erfolg. Zehn Prozent der Kunden hätten das Angebot seither genutzt, sagt Betreiber Karsten Groll.
Im Salon Hülsmann in Dortmund gibt es den Silent Cut ebenfalls seit drei Wochen. 15 Kundinnen und Kunden buchten die Stille. Überwiegend neue Kunden. Sie haben online gebucht – und nicht etwa telefonisch. Wegen reden und so.
Viele Kunden schütten beim Friseur ihr Herz aus
Dabei kann das Plauschen, Töttern und Palawern so schön und wichtig sein. Gerade wenn man sich duzt, wie es Rosa Maas mit so ziemlich jedem Kunden tut. „Nicht alle, aber manche Menschen schütten uns richtiggehend ihr Herz aus“, sagt die Friseurmeisterin, die ihren Laden seit sechs Jahren an der Hauptstraße im Ort hat.
Da ist die ältere Dame, die einmal in der Woche kommt, um sich das Haar waschen und machen zu lassen. „Die freut sich die ganze Woche auf diesen Tag“, sagt Rosa Maas zum Singsang ihrer Schere. Gerade während Corona seien viele ältere Kundinnen und Kunden spürbar einsamer geworden.
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„Ich habe immer ein offenes Ohr. Aber wichtig ist auch: Alles ist vertraulich, alles bleibt bei mir.“ Heißt: Ein Umschlagplatz für Informationen und Gerüchte ist ihr Salon nicht, darauf legt sie Wert. Aber natürlich weiß sie, wo es kriselt, wer ein Haus baut, wer ein Fest plant und was nun wieder mit Karl-Wilfried seinem Onkel Ulle los ist.
„Haare machen, Seele streicheln“, so sei das manchmal, sagt Rosa Maas. „Vielleicht kommt das Vertrauen daher, dass wir bei der Arbeit unsere Hände über die Köpfe der Leute halten – als wollten wir sie beschützen“, sagt die Chefin. Vielleicht. Eine junge Dame hat da einen weniger tiefenpsychologischen Ansatz: „Ich vertraue ihr schließlich auch mein Haar an...“ Ja, so ist das beim Friseur: Es ist eine immer neue Verwandlung, bei der auch andere Lasten abgeworfen werden können.
Albernes Thema: Wer nicht reden will, soll halt nicht reden
Die Dame, die hinten links im Salon neben einem mit Samt bezogenen Stuhl sitzt, verzieht das Gesicht bei Silent Cut und der Erklärung, was das ist. „Albern“, sagt sie. „Ich würde dem Thema keine so große Bedeutung beimessen. Wenn ich keine Lust habe zu reden, dann mache ich das auch nicht.“
Eine andere Dame, die frischgetönt und frisiert und sichtlich zufrieden den Laden verlassen will, sagt: „Für jemanden, der ohnehin viel redet, weil zum Beispiel der Job es erfordert, für den kann das schön sein.“ Sie lächelt freundlich. „Ich“, sagt sie „ich rede lieber.“