Ennepetal. Die Industrie- und Handelskammer sucht Auszubildende nun auch bei Tiktok. Zwei Ennepetaler gehören zu den acht Auserwählten, die Einblicke geben.
Gjemil sagt, dass er die Worte so verwende, wie es die Situation erfordere. „Natürlich kann ich mich auch etwas vornehmer artikulieren“, sagt er und lacht. Die Ärmel seines legeren Hemdes hat er hochgekrempelt, die Frisur sieht frisch arrangiert aus. „Aber so sprech‘ ich ja nich‘, wenn ich mit Freunden rede. Da sage ich: Hey Buddies, wir haben hier eine Sache, die ist wild und fresh.“ Wieder lacht er und sein Oberkörper wippt nach vorn.
Tiktok nutzen in Deutschland 19 Millionen Menschen jeden Monat
Wild (englisch ausgesprochen, bitte) und fresh sind jetzt nicht unbedingt Attribute, die man mit der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Verbindung bringt. Zumindest bisher. Denn diese hat am Donnerstag eine neue bundesweite Kampagne zum Thema Ausbildung gestartet, die mit Althergebrachtem bricht: weniger spröde Informationsvermittlung zu Berufen über Plakate und Poster. Stattdessen: Die jungen Leute dort ansprechen, wo sie sind: am Handy. Im Zweifel: bei Tiktok.
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Das chinesisches Social-Media-Portal, auf dem die Mitglieder ständig neue lustige, lehrreiche oder auch sinnlose Kurzvideos für die Allgemeinheit produzieren und für die es bei Gefallen Herzchen gibt, nutzen in Deutschland jeden Monat rund 19 Millionen Menschen. Vor allem jene, die jünger als 25 Jahre alt sind. Und damit Menschen, die für eine Ausbildung infrage kommen. Menschen, die die Betriebe auch in Südwestfalen so händeringend suchen – und oft nicht finden. Menschen wie Gjemil Mustafa (21) und Muhammet Ali Sögüt (25).
SIHK: Nicht immer dasselbe machen
Beide sind im ersten Lehrjahr zum Industriekaufmann bei der Firma biw Isolierstoffe in Ennepetal, beide kommen aus Ennepetal. Sie sind zwei von deutschlandweit insgesamt acht Azubis, die nicht nur von den obligatorischen Plakaten herunterlächeln werden, sondern die Jugend mit ihren Videos ansprechen sollen. Dazu ging der Tiktok-Kanal am Donnerstag unter www.tiktok.com/@die.azubis an den Start. „Wenn du immer dasselbe machst, kriegst du auch immer das gleiche Ergebnis“, sagt Thomas Haensel, Leiter des Geschäftsbereichs „Menschen bilden“ bei der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK), über die neue Kampagne.
Gjemil ging von der Haupt- auf die Realschule und später noch aufs Gymnasium, um sein Abi zu machen. Er interessierte sich erst für Autos, doch die Ausbildung war nichts für ihn. Muhammet studierte Maschinenbau. „Man hat mir gesagt, das sei das Beste für meine Zukunft.“ Aber das war ihm schnell zu theoretisch. Er wollte sein Wissen anwenden, arbeiten, Geld verdienen, somit unabhängig sein, Stolz auf sich zudem. Das sind die Emotionen, auf die auch die Videos in Zukunft einzahlen sollen.
Azubi-Casting: 8 aus 220 Bewerbern
Die beiden wurden im Betrieb angesprochen, ob sie Lust hätten, Werbung für die duale Ausbildung zu machen. Hatten sie. Sie bewarben sich mit einem Video, wurden nach Berlin zur IHK eingeladen – und wurden aus 220 Konkurrenten ausgewählt. Ihr erstes Video ging am Donnerstag online. Thema: Bewerbungsgespräch – und was man da nicht sagen sollte.
„Haben Sie schon Berufserfahrung gesammelt“, sagt Muhammet in der Rolle des Chefs. „Nee, aber Pokemon-Karten“, antwortet Gjemil.
„Wo wollen Sie in fünf Jahren sein“, fragt der Chef. Der Bewerber setzt ein gewinnendes Lächeln auf. Mit der Frage hat er gerechnet. Mundwinkel gehen runter. „Aber ich weiß die Antwort nicht.“
Schnelle Schnitte, Pointe, ein Tanz zum Ende. Alles auf 46 Sekunden. Lustig, unterhaltsam, nah an der Zielgruppe vermutlich.
Tipps durch Fortbildungen mit Influencern
„Ich nutze Social Media bislang wie viele andere auch“, sagt Gjemil. Soll heißen: Hobby-Influencer ist er nicht. Und Ahnung davon, wie ein Video besonders erfolgreich wird, hat er auch nicht. Muhammet sagt: „Es war schwer, das erste Video zu drehen. Wir wussten nicht, wie wir das machen. Und die Stimme hört sich total anders an.“
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Die beiden erhielten von der IHK zwei Fortbildungen mit Influencern. Mit einer Dame, die sich bei Tiktok Miss Giorgia Cavallonennt und mit Themen wie u.a. toxisches und sexistisches Verhalten 1,5 Millionen Follower generiert hat. Und mit einem Mann, der sich Professorfinanzen nennt. 1,4 Millionen Follower wollen seine Tipps sehen.
Seither wissen Gjemil und Muhammet etwas besser, wie die Videos gemacht sein müssen. „Es geht um die ersten drei Sekunden. Die müssen direkt catchen“, sagt Gjemil. Heißt: den Nutzer einfangen, in den Bann ziehen. Wer in den ersten drei Sekunden nicht die Aufmerksamkeit des Zuschauers in seinen Bann zieht, dessen Video wird einfach weggewischt. Knallharter Verdrängungswettbewerb. Das nächste niedliche Katzenvideo wartet schließlich schon.
„Wichtig ist, dass wir uns nicht verstellen“
Nicht zu lang darf das Video sein. Nicht zu schnell sprechen, deutlich, sagen die beiden. „Wichtig ist vor allem, dass wir wir selbst sind, dass wir uns nicht verstellen“, sagt Gjemil. So sollen humorige Einblicke in ihre Ausbildung entstehen – und dort gesehen werden, wo die Botschaft hingehört.
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Idealerweise einmal in der Woche sollen die beiden ein Video anfertigen. Das geschieht während der Arbeitszeit mit dem Handy. Sie produzieren die Videos, schneiden die Bilder auch selbst. In Berlin erfolgt eine Endabnahme, ehe das Filmchen – und die der anderen Azubis bundesweit – online geht. Vorgegeben, sagt die Industrie- und Handelskammer ist erstmal nichts.
Ausbildung und Azubis waren nie wertvoller
Ideen für die Zukunft haben Gjemil und Muhammet schon gesammelt. Als nächstes wollen sie das Thema Alter anvisieren. Dass man ein gutes Team sein kann, selbst wenn der eine jung und der andere alt ist, und man deswegen nicht immer die gleiche Sprache spricht.
„Wir möchten jungen Menschen zeigen, dass Ausbildung und Azubis nie wertvoller waren als heute. Ziel ist es, ein neues Bewusstsein für das Thema Ausbildung zu schaffen und so dabei zu helfen, Betriebe und den Fachkräftenachwuchs zusammenzubringen“, sagt Ralf Stoffels, Vizepräsident der DIHK, zugleich Präsident der SIHK und bei biw Chef der beiden Azubis.
War noch was? Nein? Dann: weitermachen. Oder wie Gjemil sagen würde: „Zurück an die Arbeit, Collegas.“