Lennestadt. Der Sauerländer Schafhalter Heinrich Junge weiß, dass die Rückkehr des Wolfes Emotionen auslöst, ruft aber Gegner und Befürworter zum Dialog auf.
Heinrich Junge öffnet die Haustür, lächelt freundlich und sagt: „Nicht wundern. Wir haben ein Schaf im Wohnzimmer.“
Man denkt zunächst an einen Scherz des Sauerländers aus Lennestadt-Bruchhausen, beim Blick in die gute Stube ergibt sich ein anderes Bild: In einem Hundekorb auf dem Boden liegt „Hannah“, ein Lamm, eine Woche alt und von der Mutter verstoßen. Das Junge muss von der Familie Junge aufgezogen werden. Jede Stunde bekommt es das Fläschchen.
Hannah liegt unter einem Wärmestrahlgerät mit Infrarotlicht, räkelt sich kurz, dann schläft sie wieder den Schlaf des Gerechten. So süß. Nicht auszudenken, wenn sich später einmal, nach ihrer Rückkehr in die Herde auf der Wiese, ein Wolf über sie hermachte. „Der Wolf kommt auch im Sauerland immer näher“, sagt Heinrich Junge (57), „die Situation für uns Schafhalter ist durch ihn schwieriger geworden.“
70 Shropshire-Schafe auf der Weide
Hannah ist eines von 70 Shropshire-Schafen in der Herde des Nebenerwerbs-Schafhalters und -Weihnachtsbaumerzeugers aus dem Kreis Olpe. Ihre Hauptaufgabe: das Gras zwischen den Tannen kurz zu halten.
Denn die tierischen Rasenmäher, ursprünglich aus Großbritannien stammend, haben die Eigenschaft, im Gegensatz zu allen anderen bekannten Schafrassen, sich nicht an den Trieben der Nadelhölzer zu verbeißen. Durch diese umweltschonende Unkrautbekämpfung können die Pflanzen gut wachsen.
Eigene Wolf-Seite für NRW im Internet
Das Landesumweltamt NRW (Lanuv) hat im Internet eine eigene Wolf-Seite (www.nrw.wolf) eingerichtet, auf der zu erahnen ist, dass das Raubtier eines Tages auch im Sauerland heimisch sein wird. Im vergangenen Jahr wurde ein Wolf in Meinerzhagen, Halver und Lüdenscheid (Märkischer Kreis) sowie in Attendorn und Drolshagen (Kreis Olpe) offiziell nachgewiesen.
In Lüdenscheid war es ein weiblicher Wolf (Fähe) mit der Kennung GW2856f, der vier Schafe tötete. Er stammt aus einem in der niedersächsischen Kleinstadt Visselhövede ansässigen Rudel. Heinrich Junge hat auf seinem Handy Bilder von gerissenen Tieren, die ihm ein Kollege geschickt hat. „Die möchten Sie nicht sehen“, sagt er. Als er ein „kein schöner Anblick“ anhängt, verrät sein Gesicht, dass das die mildeste aller Umschreibungen ist.
Der Vorsitzende des Bezirks Sauerland im Schafzuchtverband NRW berichtet von Überlegungen, Plakate mit entsprechenden Schockbildern zu platzieren. „Unser Verband hat davon abgesehen. Das wäre für die Leute zu krass gewesen.“
Dem Lanuv zufolge kehrt der Wolf in Europa in alte Lebensräume zurück, in denen er seit fast 180 Jahren ausgestorben war. Und: „Auch in NRW gibt es seit einigen Jahren wieder vereinzelte Hinweise auf durchziehende Wölfe.“ Man gehe davon aus, dass in verschiedenen Landschaftsräumen „seit 2018 einzelne Wolfsindividuen standorttreu geworden sind“.
Vier Wolfsgebiete in NRW
Daher wurden in NRW vier Wolfsgebiete ausgewiesen: Schermbeck (Niederrhein), Senne-Eggegebirge (Ostwestfalen), Eifel-Hohes Venn und Oberbergisches Land. Letzterer grenzt an den Kreis Olpe. „Wir müssen damit leben, dass der Wolf kommen wird“, sagt Heinrich Junge, „sie können bei nächtlichen Streifzügen locker 50 Kilometer schaffen.“
Am Niederrhein, das weiß er, beharken sich Wolfs-Befürworter und -Gegner, die den Abschuss der Tiere fordern, doch sehr. „Die Fronten sind verhärtet“, sagt Junge, „solche Extreme möchte ich im Sauerland nicht haben. Wir müssen immer dialogfähig und kompromissbereit sein.“
Romantisches Bild über den Wolf
Was der Sache nach Auffassung des hauptberuflichen Landmaschinenmechanikers nicht dienlich ist: „Das romantische Bild über den Wolf in weiten Teilen der Bevölkerung. Das können wir uns knicken.“
Es sei noch viel Aufklärungsarbeit nötig. Beim Wolf handele es sich um ein Raubtier, das auch vor anderen Weidetieren wie Ziegen, Rindern oder Pferden nicht Halt macht. Junge: „Kollegen berichteten mir, dass die Herde nicht mehr zu händeln ist, wenn ein Wolf in ihr war.“
Was die Sache ebenfalls nicht einfacher macht: Die Wolfsbestände im Bundesgebiet werden immer größer. „Man sagt, dass sich jede Wolfspopulation jedes Jahr um den Faktor 3 vermehrt.“ Nach Meinung von Heinrich Junge müsse man sich Gedanken über Obergrenzen machen. „Wenn man die Rudel unkontrolliert wachsen lässt und nicht eingreift, verlieren die Wölfe womöglich eines Tages die Scheu vor den Menschen.“
Naturschutzverbände: Wolf gehört in unser Ökosystem
Naturschutzverbände wie der Nabu, die der Auffassung sind, dass der Wolf als Wildtier genauso in unser Ökosystem gehört „wie Reh, Fuchs und Hase“, sehen in einem effektiven Herdenschutz die Formel für eine dauerhafte Akzeptanz des Wolfs in der Bevölkerung. Heinrich Junge hat seine Wiesen mit einem 1,50-Meter-Elektronetz umzäunt.
Berührt ein Wolf den Draht, so die Theorie, erfährt der Wolf einen kurzen, aber heftigen Stromschlag und zieht ab. „In der Praxis hält das manche Tiere ab“, sagt Junge, „ich habe aber auch schon von Kollegen gehört, dass Wölfe hinübergesprungen sind oder mehrere Tiere eine Art Pyramide aufgebaut haben und sich auf diese Weise Zutritt in die Herde verschafft haben.“
Für die Kosten – „weit über 100 Euro für 50 Meter – können Halter Fördermittel in Anspruch nehmen. Junge: „Die bezahlen die Zäune, aber nicht die Arbeit, die damit verbunden ist.“
Entschädigung vom Staat
Apropos Kosten: Reißt ein Wolf Schafe, Ziegen, Rinder oder Pferde, bekommt der Halter staatliche Entschädigung. Wiewohl: „Der ideelle Wert wird nicht erstattet. Die Zuchterfolge von Jahrzehnten können von einem Tag auf den anderen zunichte gemacht worden sein.“
Derweil wächst die kleine Hannah im Hundekorb im Wohnzimmer der Junges. Alle zeitweiligen „Familienmitglieder“, die mit der Flasche aufgezogen werden, erhalten übrigens Namen. Sie sollen einmal als Rasenmäher zwischen den Tannen ein gesundes Leben führen, die Lämmer. Vorausgesetzt: das Schweigen der Wölfe.