Hagen/Meppingen. Ein Bergbauingenieur hinterlässt 70.000 Bücher – jetzt sollen sie verschenkt werden, aber es gibt keine Abnehmer. Dafür gibt es Gründe.
Das ganze Haus muss voll gewesen sein. Von oben bis unten. Bücher, überall Bücher, insgesamt sollen es 70.000 Stück sein. In einem kurzen Film des WDR sieht man, wie fast in jedem Raum die Wände nicht mehr vor Büchern zu sehen sind, quasi wie eine Tapete wirken sie. Vollgepackte Regale überall – sogar an den Dachschrägen.
Ein Bergbauingenieur aus Nordrhein-Westfalen, der im Alter von 88 Jahren verstorben ist, sammelte die Unmengen Bücher. Von der „wahrscheinlich größten Privatbibliothek Deutschlands“ schreibt der Spiegel. Das Problem mit der riesigen Sammlung im Tecklenburger Land: Wohin mit dem tonnenschweren Erbe? Die Betreuerin der in einem Pflegeheim lebenden Witwe des Büchersammlers sagt, man wolle die Sammlung am liebsten vollständig abgeben, gerne für einen sozialen oder kulturellen Zweck. Doch im schlimmsten Fall könnten die 70.000 Bücher in der Mülltonne landen, denn offenbar lehnen Händler und sogar wohltätige Organisationen dankend ab.
Mit blutendem Herz
Bastian Pütter kennt das Problem. Er arbeitet für den gemeinnützigen Verein Bodo e.V. aus Dortmund, der bekannt ist für sein gleichnamiges Straßenmagazin und der sich um Menschen in sozialen Notlagen, etwa Obdachlose, kümmert. Der Verein nimmt gebrauchte Bücher an, verkauft sie in zwei Buchläden in Dortmund und Bochum und vertreibt gespendete Werke auch über das Internet. Angesprochen auf die 70.000-Bücher-Sammlung aus Mettingen, in der Nähe von Ibbenbüren, sagt Bastian Pütter: „Uns blutet das Herz.“
Sie würden die Sammlung wohl nehmen, „aber“, sagt Pütter, „nicht auf einmal“. Vielleicht könnten sie 1000, 2000 Bücher in einem ersten Schritt abholen, mehr aber nicht. Um 70.000 Bücher abzuholen und zu sortieren, braucht es Zeit. Viel Zeit. Die kostet Geld. Und um 70.000 Bücher zu lagern, braucht es Platz. Viel Platz. Lagerfläche aber kostet ebenfalls Geld. Geld, das durch den Verkauf wohl nicht reinzuholen ist.
„Wenn man eine Bananenkiste vernünftig packt, gehen zwischen 15 und 20 Kilo rein. Je nach Buch. Das sind ohne Ende Tonnen. Rein logistisch ist das ein Riesenaufwand. Und sie müssen ein Lager haben. Deswegen schreckt das jeden ab“, erklärt der Gevelsberger Antiquar Uwe Sticht, der gerade seinen Laden auflöst und sich künftig auf seinen Internethandel konzentriert. Er schätzt, dass von den 70.000 Büchern in Mettingen am Ende 5000 eine zweite Chance erhalten könnten – „im günstigsten Fall“.
Kein Geschäft auf Flohmärkten
Die Nachfrage nach gebrauchten Bücher ist offenbar geschrumpft, andererseits ist der Markt übersättigt. Eine verhängnisvolle Kombination, welche die Preise drückt. „Früher“, sagt Pütter, „konnte man mit altem Zeug auf Bücher- und Flohmärkten Geld einnehmen, aber die Zeiten sind vorbei.“
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In den vergangenen Jahren sollen Hunderte Großsammler gestorben sein, die hunderttausende gebrauchte Bücher hinterlassen haben. Das Angebot muss enorm sein. Gleichzeitig lesen die Menschen, gerade die jüngeren, immer weniger gedruckte Werke, seien es Bücher, Magazine oder Zeitungen. Alles wird immer digitaler.
„Es gibt eine Schwemme von Aussortiertem, weil sich viele auch vom Bücherregal als Statussymbol getrennt haben. Wohnungen sehen heute anders aus“, sagt Pütter, der noch einen weiteren Grund nennt: Eltern würden Jugendbücher mit alter Rechtschreibung verschmähen, um ihren Kinder nicht etwas Überholtes beizubringen.
Gewisse Segmente funktionieren
Pütter spricht von einem „Schrumpfungsprozess“ auf dem Markt für gebrauchte Bücher, der dazu führe, „dass viele schmerzhafte Entsorgungsprozesse stattfinden“. Er urteilt: „Der Gebrauchtmarkt ist nicht kaputt, aber er funktioniert nur in einem bestimmten Segment.“ Viele Taschenbücher beispielsweise, die in der Vergangenheit zu Zehntausenden aufgelegt worden sind, sind keine Seltenheit, daher heute kaum noch etwas wert.
Antiquar Sticht nennt sie „Alltagsprodukte“ und urteilt: „Kriegt man für kleines Geld, in gutem Zustand.“ Online-Großhändler verkaufen diese Bücher – zum Teil für Cent-Beträge oder für wenige Euro (zuzüglich Versandkosten). Das gelte, wie Sticht und Pütter betonen, allerdings nur für nahezu neuwertige Bücher, die außerdem über eine ISBN-Nummer verfügen. Ältere Werke hingegen haben keine Chance.
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Ein schwieriger Fall seien des Weiteren gebrauchte Lexika, frühere Ausgaben des Brockhaus beispielsweise. Aus heutiger Sicht sind sie oft veraltet, zu Werken ohne (materiellen) Wert geworden. Pütter erzählt, dass ihnen immer wieder solche Restbestände angeboten werden. „Wir sagen den Leuten dann: Es tut uns schrecklich leid, aber dafür finden Sie auch keinen Händler. Die Leute sind dann tief betrübt, dass das keiner mehr haben möchte.“ Sein – schwacher – Trost: „Immerhin werden die Bücher recycelt, es wird wieder Papier.“
Besondere Exemplare finden
Im Gegensatz zu den „Alltagsprodukten“ gibt es allerdings Hoffnung für eine andere Kategorie Bücher: die Raritäten. Sie haben eine Zukunft. „Bücher, die nicht zu häufig vorkommen, treffen als Nischenprodukte auf einen kleinen Interessentenkreis“, sagt Sticht. Mit dieser Sorte, die online weltweit gehandelt wird, ist noch Geld zu verdienen, mitunter gutes Geld. Aber: Man muss die besonderen Exemplare erst mal finden. „Man kriegt einen Schrecken, wie viel Lebenszeit man verschwendet. Das machen Sie nicht, außer es ist Ihr Hobby“, sagt Sticht über das Durchforsten von großen Sammlungen wie die des Bergbauingenieurs aus Mettingen, der Sachbücher, Gedichtbände und Trivialliteratur gehortet hat.
Wenn man sich aber auf die lange Suche begibt und dann das besondere Etwas findet, ist die Freude umso größer. Pütter erzählt, dass ihnen bei Bodo e.V. auch schon mal eine Erstausgabe des englischen Schriftstellers Charles Dickens oder hochwertige Wissenschaftsausgaben in die Hände gefallen seien. „Das macht das zu einer schönen Arbeit, diese Schatzsuche“, sagt er, „aber erst mal kostet das Geld.“