Mudersbach. Birgit Gerhardus trägt wegen Corona noch immer die Maske. Sie wird manchmal angeschaut als wäre sie bescheuert, dabei ist sie schwer krank.

Es ist erst ein paar Wochen her, als es wieder passierte. Birgit Gerhardus war einkaufen. Auf dem Weg dorthin trägt sie Maske, wo viele Menschen sind. Meistens geht sie spät einkaufen, kurz vor Ladenschluss, dann ist es leerer. Und natürlich trägt sie auch im Supermarkt einen Mund-Nasen-Schutz. „Da kam eine Frau auf mich zu und hat mich gefragt: ,Was ist mit dir denn los? Glaubst du etwa noch an den Kaffeefilter?’“ Perplex sei sie gewesen. „Ich habe mich als Person missachtet gefühlt.“ Weil ihr die Maske vielleicht bislang das Leben gerettet hat.

Schwere Lungenerkrankung – die Maske soll vor den Coronaviren schützen

Birgit Gerhardus leidet an Mukoviszidose, einer angeborenen Stoffwechselerkrankung, die bei der 56-Jährigen dazu führt, dass der Schleim in den Atemwegen zähflüssiger wird und alles verstopft. Atemnot geht damit einher, schwere Lungenentzündungen, chronischer Husten. Der Krankheitsverlauf ist fortschreitend – und tödlich. Sie würde keine 30 werden hatten die Ärzte ihr damals gesagt.

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Birgit Gerhardus, die in Mudersbach in der Nähe von Siegen lebt, gehört damit zu jenen, die die Corona-Pandemie als Risikogruppe klassifiziert. Deshalb trägt sie noch immer die Maske, deshalb macht sie sich noch immer Sorgen. Deshalb ist für sie das Leben fast noch ein bisschen komplizierter geworden als noch vor einem oder zwei Jahren.

Es herrscht wieder Normalität – nur eben nicht für alle

Denn alle Welt hat sich längst dankbar die Maske vom Gesicht gerissen: In Bars, Restaurants und Diskotheken, auf Partys, Stadtfesten und Hochzeiten wird längst wieder zusammengesessen und gefeiert als habe es Corona nie gegeben. In Supermärkten und anderen Innenräumen trägt kaum noch jemand Maske. Alles wieder normal – zum Glück. Nur eben nicht für Menschen wie Birgit Gerhardus, die sich weiterhin schützen muss, während viele andere den Sinn darin nicht mehr sehen. Die Unbekümmertheit anderer kann für sie zur Gefahr werden.

Hier einmal ohne Maske: Birgit Gerhardus und ihr Mann Klaus auf dem Sofa ihrer Wohnung in Siegen-Mudersbach.
Hier einmal ohne Maske: Birgit Gerhardus und ihr Mann Klaus auf dem Sofa ihrer Wohnung in Siegen-Mudersbach. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

„Wie sich eine Infektion bei mir äußern würde, ist nicht ganz klar“, sagt sie. Am Anfang der Pandemie habe der Arzt ihr gesagt, dass er ihr dann vermutlich nicht mehr würde helfen können. Sie weiß von Mukoviszidose-Patienten, die nach der Infektion gestorben sind. Sie weiß auch von Fällen, in denen alles glimpflich ablief. Sie und ihre Familie sind deswegen nicht in Panik, aber noch immer höchst vorsichtig.

Birgit Gerhardus weiß, wie es ist, wenn man das Gefühl hat, zu ersticken

„Eine Verschlechterung des Zustandes ist anzunehmen. Ich weiß, wie es ist, wenn die Lunge nicht mehr funktioniert. Ich weiß, wie es ist, wenn man das Gefühl hat, zu ersticken“, sagt sie und die Luft für ihre Sätze spart sie sich - so klingt das manchmal - zusammen. Das Gefühl braucht sie nicht wieder. Schließlich hat sie die Krankheit gerade erst so unter Kontrolle wie noch nie.

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Mit 21 Jahren erst wird die Mukoviszidose bei ihr diagnostiziert. Bei 65 Prozent liegt ihr Lungenfunktionswert heute. Es gab auch Zeiten, da war dieser Wert auf 30 abgesackt. 2012, 2015 und 2020 erlebt sie jeweils eine rapide Verschlechterung ihres Zustandes. Sie kann kaum noch Treppen steigen, macht fünf Stunden Atemtherapie am Tag, kann danach nur noch schlafen. Alleine schafft sie es nicht mehr, ihre Lunge zu reinigen, um ausreichend atmen zu können „2020 haben wir gedacht, dass das nicht gut ausgeht“, sagt Klaus Gerhardus.

Tabletten für 20.000 Euro im Monat bringen Linderung

Es ist das Jahr, in dem das Coronavirus kommt – und Birgit Gerhardus neuen Mut schöpft. Sie wird trotz der Seltenheit ihrer Mutationen Teil einer medizinischen Studie, erhält Tabletten, die im Monat 20.000 Euro kosten. Morgens nimmt sie mittlerweile zwei, abends eine. Die allererste erhält sie am 28. Mai 2020, das weiß sie auswendig, weil sie das Datum einen weiteren Geburtstag nennt. Die Beschwerden lassen sofort nach. „Das war der Hammer“, sagt sie. „Erstmals in meinem Leben habe ich keinen Husten mehr.“ Ihr Arzt sagt ihr, dass sie da gerade Medizingeschichte schreibt.

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Aber noch ist Corona in der Welt – und das bleibt ja auch so. „Wir haben als Familie gelernt zu verzichten. Für uns ist das aber kein Verzicht, sondern normal“, sagt Klaus Gerhardus. „Wir brauchen nicht das volle Programm und ständig Highlife. Das gilt auch für die Kinder, für die gegenseitige Rücksichtnahme selbstverständlich ist.“ Zu Beginn der Pandemie war in der Familie „richtig Druck auf dem Kessel, das war schon heftig“, sagt er. Die Unsicherheit groß, die Angst auch. „Das ging nicht ohne Konflikte ab.“ Das Ehepaar begab sich in freiwillige Quarantäne, der Sohn kaufte für die Eltern ein. Alles hat sich mittlerweile etwas normalisiert.

Familie und Freunde nehmen Rücksicht, Fremde nicht immer

Klaus Gerhardus, der in einer Wohnstätte für Menschen mit Behinderung arbeitet, trägt aber weiterhin für seine Frau Maske. Und die Kinder achten auch auf sich: Tochter Anna (31), die ebenfalls zur Risikogruppe gehört, schon aus Eigennutzen. Sohn Simon (35) arbeitet in einer Behindertenwerkstatt und testet sich dort fast täglich. Wenn er ausnahmsweise privat mal wo war, wo viele Menschen zusammenkommen, dann bleibt er der Mutter erstmal fern.

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Neulich war das Ehepaar erstmals wieder auf einer Vernissage. Dort war Masketragen Pflicht. Bald steht der 75. Geburtstag ihres Schwagers an. „Da können wir nur hin, wenn sich vorher alle testen“, sagt Birgit Gerhardus. Sie ist immer auf das Verständnis anderer angewiesen. Freunde, Bekannte und Familie haben das, sagt sie beglückt. Aber es gibt ja auch noch die anderen. Die im Supermarkt zum Beispiel.

„Wenn ich Maske trage, werde ich manchmal angeschaut, als wäre ich von gestern. Ich würde mir mehr Rücksicht und Sensibilität wünschen“, sagt sie, „nicht nur für mich, sondern für die vielen anderen, die nicht das Glück haben, vollkommen gesund zu sein.“ Sie möchte sich nicht rechtfertigen müssen, sondern sich nur schützen, während alle anderen den Schutz vernachlässigen. „Mehr Empathie, weniger Egoismus – das wäre hilfreich. Wenn jemand eine Maske trägt, dann hat er vermutlich einen guten Grund dafür.“ Auf Birgit Gerhardus trifft das zu. „Dass ich überhaupt so alt geworden bin, ist ein Wunder“, sagt die, die sich aus jeder noch so aussichtslosen Situation wieder befreit hat und gerade ihr Leben mehr denn je genießen kann. Trotz Corona.

<<< HINTERGRUND >>>

  • Mukoviszidose gehört zu den seltenen Erkrankungen. Rund 8000 bis 10.000 Personen in Deutschland leben mit der Krankheit. Chronischer Husten, schwere Lungenentzündungen, Verdauungsstörungen und Untergewicht sind die wichtigsten Kennzeichen der Erkrankung.
  • Die Krankheit ist unheilbar. Der Verlauf ist fortschreitend und führt zum Tod. Durch intensive Forschungsarbeit ist die Lebenserwartung der Betroffenen in den vergangenen Jahren gestiegen. Rund ein Drittel stirbt jedoch vor dem 18. Lebensjahr.
  • Mukoviszidose wird durch eine Veränderung im CFTR-Gen verursacht. CFTR steht für „Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator“. Der Regulator ist ein Protein, das auf der Oberfläche einiger Zellen sitzt und wie ein Kanal wirkt. Durch die Mutation ist der Kanal defekt, der normalerweise dafür sorgt, dass Salz und Wasser aus der Zelle ein- und ausströmen. Es kommt zu einem Ungleichgewicht im Salz-Wasser-Haushalt der Zelle. Deshalb enthält der Schleim, der die Zellen bedeckt, bei Mukoviszidose zu wenig Wasser und wird dadurch zäh. Der Schleim verstopft lebenswichtige Organe.