Hagen.
Es brauchte drei Zutaten, um die neue Welt zu schaffen. Eine Welt, in der sich schwer übergewichtige Menschen in Hagen nicht mehr allein fühlen müssen. In der sie nicht mehr weit fahren müssen, um Hilfe zu finden. Die wichtigste Zutat zu dieser neuen Welt ist ein Mann, der sich getraut hat, mit seinem Schicksal sehr öffentlich umzugehen. Christian Fricke, der auf dem Höhepunkt seiner Adipositas-Karriere mehr als 220 Kilo wog, ist inzwischen zu einer Symbolfigur in Hagen, aber auch weit über Hagen hinaus geworden. Er ist noch nicht am Ziel, er kämpft weiter, es gibt Höhen und Tiefen. Aber er hat mehr als 90 Kilo abgenommen, und er führt ein Leben, das nicht mehr vergleichbar ist mit dem vor gut zwei Jahren.
Die zweite Zutat ist in diesem Fall die WESTFALENPOST. Sie hat im Juni 2014 über Christian Fricke berichtet. Und nur so konnte Dr. Claas Brockschmidt, Chefarzt des damals gerade im Aufbau befindlichen Adipositas-Zentrum am evangelischen Krankenhaus in Haspe – besser bekannt als Mops – überhaupt auf Christian Fricke aufmerksam werden.
„Wir standen damals noch am Anfang, waren mit dem Aufbau des Adipositaszentrum beschäftigt“, erinnert sich Dr. Claas Brockschmidt. „Ich habe den Zeitungsartikel gelesen und habe gleich erkennen können, mit welchem Enthusiasmus Christian Fricke an die Sache ran geht. Da war mir schnell klar dass wir gut zusammenarbeiten können. Dass das sich zeitlich mit dem Aufbau überschnitten hat, war ein Glücksfall.“ Es war die dritte Zutat.
Eigene Geschichte schafft Vertrauen
Die Zusammenarbeit besteht zum einen darin, dass Christian Fricke mittlerweile den Kampf gegen das Übergewicht zum Beruf hat machen können. Doktor Claas Brockschmidt hat ihn zum Koordinationsassistenten im Mops gemacht. Das heißt, der 31-Jährige kümmert sich um die schwer übergewichtigen Patienten, die im Hasper Krankenhaus Hilfe suchen und oftmals auf eine Operation vorbereitet werden, die ihnen die Gewichtsabnahme ermöglichen soll. „Durch meine eigene Geschichte kann ich natürlich ganz anders mit dem Patienten reden“, sagt Christian Fricke. „Bei mir wissen Sie, dass ich das Gleiche durchgemacht habe“, was sie gerade erleben. Das schafft Vertrautheit, das baut natürlich Hemmschwellen ab.“
Ein breites Angebot
Doch neben dieser hauptberuflichen neuen Tätigkeit für Christian Fricke ist etwas entstanden, was weit über seine Person hinausgeht, trotzdem aber eng mit seinem Namen verbunden ist: Das Adipositas-Netzwerk Hagen. Als die WESTFALENPOST im Juli 2014 über Christian Fricke berichtet hatte, da wollte er gerade unter dem Dach des Deutschen Roten Kreuzes in Vorhalle eine erste Selbsthilfegruppe für adipöse Menschen in Hagen einrichten. Denn er selbst hatte erleben müssen, dass er weit fahren musste, um sich mit Menschen mit ähnlichem Schicksal zu treffen.
Inzwischen gibt es 15 davon, acht Selbsthilfegruppen allein in Hagen (eine neunte für Männer ab einem BMI von 50 kommt ab September hinzu), dazu zwei in Iserlohn, eine in Halver, zwei in Lüdenscheid, eine in Olpe. Und ganz frisch ist auch eine in Schwerte eröffnet worden. Wuppertal, Plettenberg und Schwelm sind in Planung.
Zu dem Adipositas-Netzwerk gehört aber weit mehr als nur die Selbsthilfegruppen. Da gibt es die XXXL-Kleiderkammer in Vorhalle, da gibt es Ernährungsberatung, einen Rechtsanwalt, der sich im Sozialrecht bestens auskennt. Sport-Angebote, Möglichkeiten zur gemeinsamen Freizeitgestaltung (zum Beispiel Kegeln oder Minigolf), die XXL-Party, die regelmäßig in der Tanzschule Siebenhüner stattfindet. Es gibt Psychologen, niedergelassene Ärzte und auch die Jupiter Apotheke, die es zum Beispiel schwer adipösen Menschen ermöglicht, sich dort zu wiegen. Denn die herkömmliche Haushaltswaren können ihr Gewicht nicht erfassen.
Und natürlich gehört das Adipositaszentrum am evangelischen Krankenhaus als ganz zentrales Element mit dazu. Dr. Claas Brockschmidt ganz klar betont: „Die Strukturen des Netzwerkes füllen die Lücken einer intensiven Betreuung, die ein Krankenhaus nicht leisten kann..“
Zahl der Operationen steigt
Seit 1. September 2013 gibt es die Adipositas-Abteilung, seit Ende 2014 kann sie sich als Adipositas-Zentrum bezeichnen. Dass der Bedarf da ist, zeigt sich an der Zahl der Operationen. 2015 gab es davon 70, im Jahr 2016 sind es bislang schon weit über 50. Mal sind es Magenverkleinerungen, mal so genannte Bypass-Operationen. Auch die Entfernung von Fettschürzen, die entstehen, wenn stark übergewichtige Menschen abnehmen, die Haut sich nicht dementsprechend straffen kann, gehören zum Repertoire.
Immer wieder werden dort aber auch Standard-Operationen wie etwa der klassische Blinddarm bei stark übergewichtigen Menschen durchgeführt. Dort hat man die Apparaturen und auch die Erfahrung, die man bei den sehr übergewichtigen Menschen benötigt.
Doktor Claas Brockschmidt, der Chefarzt der Abteilung, muss eine Provokation für die Patienten sein. Er ist sehr schmal. „Das sind aber die allermeisten der Adipositaschirurgen in Deutschland“, sagt der Mediziner mit einem Lächeln. Für die menschliche Komponente, für den ersten Kontakt beim Körpervermessen oder Wiegen – alles Prozeduren, die für stark übergewichtige Menschen belastend sind – gibt es Christian Fricke. Den Mann, der das alles auch durchgemacht hat. Und der sich freut, dass er jetzt an entscheidender Stelle daran mitgewirkt hat, dass es diese gibt. „Vor zwei Jahren, als ich in der Situation war, da gab es all dies nicht. Keine Selbsthilfegruppe in der Region und auch kein Adipositaszentrum.“
Mehr als 800 Betroffene
Der Bedarf ist riesengroß, schaut man allein darauf, dass es 800 Betroffene in der Region in und um Hagen gibt, die stark übergewichtig sind und Hilfe suchen. Und die sich oftmals auf den Weg machen wollen, den Christian Fricke schon gegangen ist: „Wir haben die Hausärzte für das Thema sensibilisiert, die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen hier in Hagen läuft super. Sicherlich auch, weil wir sie erst einmal richtig immer informiert haben. Und sogar die Arbeitsagentur meldet sich ab und an bei uns, wenn sie einen schwer übergewichtigen Klienten hat. Das Netzwerk ist zu einer Institution geworden.“