Menden. Zwangsversteigerungen sind so gut besucht wie wohl noch nie. Kann man da ein Schnäppchen machen? Zu Gast beim Poker um ein Zweifamilienhaus.

Die Sonne scheint durch die Jalousien herein und wirft dünne parallele Linien auf die Wand in einem ansonsten kaum beleuchteten Raum. Stille. High Noon ist zwei Stunden entfernt, aber die Atmosphäre ist die gleiche. Amtsgericht Menden, 1. Etage, erster Raum links. Zwangsversteigerung. Wo Welten aufeinandertreffen. Wo der Traum des einen als mittelschweres Drama endet – und die Hoffnungen eines anderen beginnen.

Als Interessenten erscheinen:

Eine ältere Frau mit gebräunter Haut und Sonnenbrille im Haar. Typ: Berufsurlauberin.

Zwei mittelalte weiße Männer in T-Shirts, die mit großer Sicherheit beide Ingo heißen.

Zwei jüngere Männer, der eine sieht in seinem groben Karohemd dem Fernsehkoch Nelson Müller entfernt ähnlich.

Ein älterer Herr in Slippern. Hohe Stirn, oft gewaschenes blaues Polohemd mit hochgestelltem Kragen. Typ: Anpacker.

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Alle sitzen mit dem Rücken zur Wand in dem Bereich, der sonst Zuschauern vorbehalten ist. Ein Pärchen kommt selbstbewusst leicht verspätet: sie im Kleid, er in Joggingschuhen und kurzer Hose. Alles voll. Sie nehmen dort Platz, wo sonst die Anklage sitzt und lassen sich das Gutachten reichen. Sicheres Auftreten. Typ: Auskenner.

Es geht um ein Zweifamilienhaus in Menden, nette Gegend.

Baujahr 1953.

134 Quadratmeter Wohnfläche.

617 Quadratmeter Grundstück.

3 Garagen.

Verkehrswert: 250.000 Euro. Fünf Zehntel (die Hälfte) beträgt das Mindestgebot. Das wär’ ein Schnäppchen. Ist es das, worum es denen geht, die gekommen sind? Ist es auf einem überhitzten Markt eine Möglichkeit, selbst für ganz normale Menschen an ein Haus zu kommen? Alle taxieren einander mit Blicken, ohne sich dabei erwischen lassen zu wollen. Eh überflüssig. „Man sieht niemand an, ob er Geld hat“, wird hinterher jemand von ihnen sagen.

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10.06 Uhr: Eine Dame vom Gericht hat auf der Empore Platz genommen und erklärt, wie es laufen wird. „Die Versteigerung dauert 30 Minuten – es sei denn zu diesem Zeitpunkt wird noch immer geboten“, sagt sie. „Die Versteigerung ist eröffnet. Ende der Versteigerung: 10.37 Uhr.“

Stille. Ein Heuballen könnte vom Wind durch den Saal geblasen werden. Die Dame vom Gericht schaut alle Anwesenden nacheinander an, indem sie nur die Augen bewegt, nicht den Kopf.

10.08 Uhr: Der Anpacker in Slippern steht auf und geht nach vorn, um sich auszuweisen. Nur dann darf man mitbieten. Eine Sicherheit (ein Zehntel) ist ebenfalls heute Voraussetzung. Er hat sie vorab überwiesen. „125.000“, sagt er.

10.09 Uhr: Die Berufsurlauberin geht nach vorn. „130.000 Euro“, sagt sie. Die Ingos flüstern etwas.

10.13 Uhr: Der Auskenner in der kurzen Hose blättert im Gutachten, eine abgegriffene grüne Mappe mit dutzenden Seiten. Er blättert, wippt mit dem linken Bein.

10.15 Uhr: Der Anpacker hebt den Arm. „131.000.“

10.17 Uhr: Die Ingos fragen, ob auch sie eine Sicherheit hinterlegen müssen. Antwort: ja. „Ich kann Ihnen meinen Kontostand zeigen“, sagt einer. Kopfschütteln auf der Empore.

10.19 Uhr: Der Auskenner bietet 132.000 Euro – lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Die Arme – auf der Brust verschränkt – heben und senken sich ruhig bei dem jedem Atemzug. Nervosität? Keine Spur.

Der Anpacker sitzt mit geradem Rücken da, hält sein Handy in der Hand wie ein Gebetsbuch. Manchmal klappt er die Schutzhülle auf, ohne danach auf das Display zu schauen. Schweigen. Minuten vergehen.

10.27 Uhr: „Was habt ihr geboten?“, fragt die Berufsurlauberin und weiß es scheinbar wirklich nicht mehr. „135.000“ bietet sie schließlich. „136.000“, antwortet der Auskenner und lehnt sich nach vorn, stellt die Ellbogen auf dem Tisch auf und atmet die Beulen aus seinem Mund-Nasen-Schutz.

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10.31 Uhr: Der Anpacker in Slippern meldet sich: „137.000.“ Der Auskenner legt Tausend drauf. Sie bieten abwechselnd bis 142.000.

Stille. Dann steht Nelson Müller auf und sagt selbstbewusst: „150.000 Euro.“ Immer wieder erhöht er üppig, um vier- und sogar vierzehntausend. Immer wieder bietet der Auskenner Tausend mehr. „Wie lang geht das noch so?“, fragt Nelson Müller entnervt. Bis 190 geht er mit. Der Anpacker übernimmt. In Tausenderschritten geht es binnen Sekunden bis 211.000 Euro hoch. Höchstgebot vom Auskenner.

10.37 Uhr: Ende der Bietzeit. Der Anpacker schaut zu Boden. „Darf ich kurz rausgehen“, fragt er. Kurze Diskussion. Er darf, telefoniert, kommt wieder rein, bietet weiter. Duell in Tausendern. „Zweihundertfünfunddreißigtausend“, sagt der Anpacker. Der Auskenner zögert, überlegt, schiebt die grüne Mappe weg von sich. „Nee.“

10.43 Uhr: Zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten: verkauft an einen Mann, der eine Änderungsschneiderei besitzt und sich noch immer keine große Gefühlsregung traut. „Ich war aufgeregt, habe aber versucht, ruhig zu bleiben, um Stärke zu zeigen. Pokerface“, sagt der neue Hausbesitzer und grinst. 220.000 waren sein Limit, das Telefonat galt seiner Frau, um zu fragen, ob er noch weitermachen solle.

Seit vier, fünf Jahren sucht er schon nach einem Haus, nicht für sich, sondern für die erwachsenen Kinder, die mietfrei wohnen oder von den Einnahmen profitieren können sollen. Was in ihm gerade vorgeht? Immerhin hat er gerade fast eine Viertelmillion in eine Immobilie gesteckt, die er von innen nicht gesehen hat. Der Verkäufer muss einer Vorab-Besichtigung zustimmen. „Es wird einem schon mulmig“, sagt der Anpacker, „man denkt die ganze Zeit: Mache ich auch das Richtige? Wie groß ist das Risiko? Was erwartet mich im Haus?“ Er weiß es nicht, er wird es bald sehen. Aber alles zu seiner Zeit. Denn jetzt ist ihm doch erstmal zum Feiern zumute.

<<< HINTERGRUND >>>

Martin Roth (58) ist seit zwölf Jahren als Rechtspfleger am Amtsgericht Hagen mit Zwangsversteigerungen betraut. In den letzten zwei bis drei Jahren – also in der Coronazeit – sei die Nachfrage „eklatant gestiegen“, sagt Roth: „Das könnte daran liegen, dass die Zinsen niedrig waren und gerade vermögende Menschen die Möglichkeit gesucht haben, Geld anzulegen.“

Große Hoffnung, weit unter Marktwert zu kaufen, sollten Bieter aber wegen der hohen Nachfrage nicht haben. „In den Jahren nach der Finanzkrise 2008 konnte man bei Zwangsversteigerungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Schnäppchen machen“, sagt Roth. Dies sei aber heute „eine absolute Ausnahme geworden. „Meistens wird der Wert deutlich überstiegen, ich hatte schon Fälle, in denen der Verkehrswert um 170 Prozent übertroffen wurde.“

Begehrlichkeiten, denen Rechnung getragen wird. „Wir ­hatten in Hagen schon Termine mit über 60 Interessenten. Vor anderthalb Jahren haben wir angefangen, die Termine häufig im größten Saal – dem Schwurgerichtssaal des Landgerichts – abzuhalten, weil das Interesse so groß ist.