Arnsberg. Der Tiggeshof in Arnsberg-Ainkhausen stellt seine Milchviehhaltung ein. Landwirtin Marie Tigges erlebt ein wahres Wechselbad der Gefühle.

Dumbo ist eine besondere Kuh. Die acht Jahre alte Rotbunte ist von mächtiger Statur und hat auffallend große Ohren – die ihr den markanten Rufnamen beschert haben.

Wenn Marie Tigges „Dumbo“ ruft, schaut das Tier in ihre Richtung. „Sie hört auf den Namen“, erzählt die Landwirtin, „und ist dabei so zutraulich.“

Die Lieblingskuh bleibt auf dem Hof

Kein Wunder, dass es die Bäuerin vom Bioland-Tiggeshof in Arnsberg-Ainkhausen nicht übers Herz bringt, ihre Lieblingskuh abzugeben. Im Gegensatz zu den anderen der einst 70 Milchkühe des Familienbetriebs. Die Tigges stellen ihre Milchviehhaltung ein.

In den kommenden 14 Tagen werden die letzten Kühe an andere Höfe gegeben. In Kleingruppen, damit „sie nicht allein sind“. Marie Tigges und ihre Eltern haben sich die Betriebe gezielt ausgesucht. Die Tiere sollen es weiter gut haben. „Ein Teil meines Lebens, wie ich es kenne, geht mit ihnen“, sagt sie, „und ein Teil von mir.“

Nur noch knapp über 50.000 Milchbauern in Deutschland

Landwirtin Marie Tigges mit der hellgrauen Sandy. Die Kuh der Rasse Braunvieh darf auf dem Tiggeshof bleiben.
Landwirtin Marie Tigges mit der hellgrauen Sandy. Die Kuh der Rasse Braunvieh darf auf dem Tiggeshof bleiben. © Ralf Rottmann Funke Foto Services

In Deutschland geben pro Tag im Schnitt sechs Milchbauern auf. Gab es vor zehn Jahren noch 85.000 Betriebe, sind es jetzt nur noch gut 53.600.

Familie Tigges will trotz des Endes der Milchviehhaltung Teil des Höfesterbens werden. In naher Zukunft, erzählt Marie Tigges (30), werde sie den Betrieb von ihrem Vater übernehmen. Der Tiggeshof wird seit vielen Jahrhunderten in der Familie weitervererbt.

Ein unausweichlicher Schritt

Jetzt wolle man einen „Cut“ machen, wie es die Hoferbin nennt. Das Ende der Milchviehhaltung sei ein unausweichlicher Schritt: „Während unter meinen Füßen das Gras verbrennt, kann ich nicht weiter Tiere halten, die es fressen wollen.“

Marie Tigges hat auf der Terrasse vor dem Wohnhaus Platz genommen. Im Schatten sucht sie Schutz vor der Sonne. Die Szene steht sinnbildlich für die Situation des Betriebs: Er leidet massiv unter der Dürre.

Wieder wird die bescheidene Ernte nicht ausreichen, um die Milchkühe über den Winter zu bringen. Schon jetzt werden die Tiere morgens im Stall satt gefüttert: „Sie finden auf der Weide nichts mehr. Diese ist keine Futterquelle mehr, nur noch ein Ort des Auslaufs.“

Es rechnet sich nicht mehr

Vor zwei Jahren musste für 30.000 Euro Futter zugekauft werden. Das würde wieder drohen, und aktuell kommt die Energie- und Finanzkrise hinzu.

Alles wird teurer: Diesel, Siloballen, Futter und so weiter. „Es macht keinen Sinn mehr. Die kosten- und zeitintensive Milchviehhaltung in unserer Größe mit 70 Milchkühen rechnet sich vorne und hinten nicht mehr. Derzeit bekommen wir 56 Cent pro Liter Milch. Wir bräuchten aber 15 Cent mehr.“

Die Kühe bestimmten den Tagesablauf

Der Tiggeshof hatte einst 70 Milchkühe.
Der Tiggeshof hatte einst 70 Milchkühe. © Ralf Rottmann Funke Foto Services

Die Kühe waren immer ein wesentlicher Bestandteil in Marie Tigges’ Leben: „Sie haben unseren Tagesablauf bestimmt.“

Es begann morgens um halb 7 am Melkstand im Stall. Am Euter der Tiere wurde das Melkgeschirr angehängt. Dann stellte ein Familienmitglied die Melkmaschine an, anschließend floss die Milch über Rohrleitungen direkt in den Tank in der Milchkammer. Abends wurden die Tiere von der Weide geholt. Dann begann die Melk-Prozedur von vorne.

Ein lachendes und ein weinendes Auge

Weihnachten, Neujahr, an Geburtstagen. Immer. An 365 Tagen im Jahr. Die Aufgabe an andere abzugeben? Ging nicht: „Man muss jede einzelne Kuh kennen. Unter Stress geben sie keine Milch.“

Die Geschichte mit dem lachenden und dem weinenden Auge passt in diesen Tagen zu der 30-jährigen Sauerländerin. Das weinende bezieht sich auf die 70 Milchkühe, die an andere Höfe verkauft oder aus Altersgründen zum Schlachter geführt werden („auch ein Tierleben endet irgendwann“).

Das lachende auf die spannende Zukunft: „Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.“ Zumal sich Marie Tigges darauf freut, mehr Zeit für ihre Familie zu haben, wenn der tägliche Melk-Rhythmus wegfällt: „Ich werde nicht mehr so an Zeiten gebunden sein und kann sonntags etwas länger im Bett bleiben.“

Direktverkauf auf dem Hof

Marie Tigges wird jetzt mehr Zeit für ihre Familie haben. Im kommenden Jahr soll eine Gemüsegärtnerei aufgebaut werden.
Marie Tigges wird jetzt mehr Zeit für ihre Familie haben. Im kommenden Jahr soll eine Gemüsegärtnerei aufgebaut werden. © Ralf Rottmann Funke Foto Services

Es soll ein Aufbruch für den Tiggeshof sein. Die Familie hat bereits vor Jahren den Direktverkauf von Fleisch, Geflügel und Eiern in ihrem Hofladen und den bundesweiten Versand forciert, der Betrieb hat sich längst zum Bio-, Erlebnis- und Lernbauernhof entwickelt. Der Hofkindergarten, in dem die studierte Sozialarbeiterin Marie Tigges mitarbeitet, hat sich einen guten Ruf erworben.

Im kommenden Jahr soll eine Gemüsegärtnerei aufgebaut werden. Dazu hat sich der Tiggeshof der Initiative Solawi (Solidarische Landwirtschaft) angeschlossen. „Die Ernte wird vorher an eine feste Abnehmergruppe verkauft“, erklärt Marie Tigges. Diese erhalte dafür wöchentliche Gemüseboxen (sogenannte Anteile). Dazu Eier und Bio-Fleisch.

Aufruf zum Crowdfunding gestartet

Um den Aufbau der Gemüsegärtnerei zu finanzieren, ruft Marie Tigges im Internet zum Crowdfunding auf. Das ist eine Finanzierungsform, bei der Anleger gemeinsam in ein Projekt investieren, damit dieses realisiert werden kann: „Wir sind ein richtiges Start-up“, sagt Marie Tigges.

Ein Start-up, das in Zeiten einer drohenden Energie- und Finanzkrise Fahrt aufnehmen möchte: „Ich hoffe inständig, dass kleinbäuerliche Betriebe wie wir überleben können, dass die Menschen unsere Arbeit und die Qualität unserer regionalen Produkte wertschätzen. Wir brauchen Bauernhöfe. Sie sind ein Kulturgut.“

Zwei weitere Kühe bleiben auf dem Hof

Je näher der Tag des Abschieds von den Milchkühen rückt, umso schlechter schläft Marie Tigges. Sie hat sich entschieden, neben Dumbo mit den großen Ohren noch zwei weitere Kühe zu behalten: die etwas zu klein geratene, hellgraue Sandy (4), eine Vertreterin der Rasse Braunvieh. Und Pixie (4), „ein Flaschenkind von mir“, das bei der Geburt sehr klein gewesen sei und sich ins Leben gekämpft habe. „Ich kann sie nicht abgeben.“

Infos: solawi-tiggeshof.de und tiggeshof.de