Gevelsberg. Mit Alexandra Popp und Lena Oberdorf greifen zwei Fußballerinnen aus Gevelsberg am Sonntag nach dem EM-Titel. Eine Spurensuche in der Stadt.
Alles, was wichtig ist, wird hier besprochen: Jeden Freitag, wenn die älteren Herren um die 80 im Eiscafé in Gevelsberg zusammenkommen und mit ihren Sonnenbrillen und Schiebermützen aussehen wie ein Rat aus Hollywoodschauspielern und französischen Künstlern. „Wir sitzen hier und biegen uns die Welt zurecht“, sagt einer, lacht und verabschiedet sich. Vorher stellt er der sechsköpfigen Runde noch eine wichtige Frage: „Wie geht es aus am Sonntag?“
+++ Hier gibt es Public Viewing in Gevelsberg +++
Die Herren fiebern dem Endspiel der Damen bei der Fußball-EM in England entgegen. Anpfiff 18 Uhr. Gastgeber England gegen Deutschland. England gegen ganz viel Gevelsberg. Denn die beiden wohl bemerkenswertesten Frauen der deutschen Mannschaft kommen aus der 30.000-Einwohner-Stadt im Ennepe-Ruhr-Kreis: Alexandra Popp (31), die Stürmerin, die wegen Verletzungen um die EM hatte bangen müssen und nun sechs Tore in fünf Spielen erzielt hat, und Lena Oberdorf (20), Mittelfeldkämpferin und Ausnahmetalent. Die 20-Jährige über „Poppi“ und Jürgen Klopp.
Kein Trikot von Popp und Oberdorf zu kaufen
EM-Fieber in Deutschland. EM-Fieber in der Heimat? Ein Ortsbesuch vor dem Finale.
Kennen Sie Alexandra Popp und Lena Oberdorf? „Die Popp kenne ich, die ist berühmt, oder?“, fragt Andrea Schmidt, die mit ihrer Tochter Carla (10) durch die Stadt zieht. Mit Fußball haben sie es nicht so. „Ich habe mitgekriegt, dass eine EM läuft, aber noch kein Spiel gesehen.“ Wird aber Zeit.
Im Sportladen gibt es kein Popp- oder Oberdorf-Trikot zu kaufen. Lohnt sich nicht, weil man selbst nicht beflocken kann, wie der stellvertretende Filialleiter Tobias Fleischhauer sagt. Aber einen Fußball hat er da, unterschrieben von Popp, Oberdorf und Lukas Klostermann, dem Herren-Nationalspieler aus Gevelsberg. Der Ball soll für einen guten Zweck versteigert werden. Der Wert steigt fast täglich.
Auf der Suche nach dem EM-Fieber in Gevelsberg
Der Beton-Platz mit zwei Toren ohne Netze ist leer. Keine Deutschland-Fahne zu sehen in der Stadt. Im Alles-günstig-Laden gibt es eine Sitzgelegenheit in Fußball-Optik zu kaufen. 15 Euro. Das Wirtshaus Ratskeller hat sonntags Ruhetag. Auch sonst nirgendwo ein Hinweis auf das TV-Ereignis. Immerhin: Es gibt einen Optiker, der so heißt, wie die Zweikämpfe von Lena Oberdorf klingen: Rompf. Aber ansonsten: Kein Oberdorf-Plätzchen beim Bäcker. Jemand bestellt ein Gutsherren-Brot. Herren? Wieso Herren? Geht’s noch?
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„Die Lena kam früher hier in den Laden und hat immer ein Stück Fleischwurst gekriegt“, sagt Horst Ellinghaus (72) von der gleichnamigen traditionsreichen Fleischerei im Stadtzentrum. Scheint nicht geschadet zu haben. „Ich habe bislang jedes Spiel gesehen und freue mich auf Sonntag.“ Nicht wenigstens mal an einen kleinen Marketing-Gag gedacht? „Sie meinen sowas wie Poppwurst?“ Er schüttelt den Kopf und lacht, weil das auch gar nicht so sehr vorteilhaft klingt. Aber der Engelbert-Schinken – benannt nach dem Tunnel in der Stadt, nicht nach dem Sänger – sei immer noch ein Verkaufsschlager.
„Lena Oberdorf ist ein Phänomen“
„Lena habe ich aufwachsen sehen“, sagt Peter Mielke (80, unten rechts mit Sonnenbrille), einer der Männer in der Hollywood-Künstler-Runde im Eiscafé. Ganz in der Nähe wohnt er, in der Straße, in der auch die Oberdorfs noch heute wohnen, wo Lena früher immer mit den Jungs aus der Nachbarschaft kickte. „Die ist ein Phänomen.“ Wenn die schon die Straße hochkam: der Blick, die Haltung, „nicht so lurig und schlapp“, sagt Peter Bahr (82), ein anderer der Männer. „Die hat Kraft.“ Er ballt die Hände zu Fäusten. Dass sie aus seiner Stadt kommen, „das macht mich stolz“, so Mielke.
Popp und Oberdorf spielen für den VfL Wolfsburg, aber ihre Heimat bleibt Gevelsberg. In Silschede, einem selbstbewussten Stadtteil, der einst eine eigene Gemeinde war, hat Alexandra Popp ein Haus gekauft. Auch die Mama lebt noch dort. Am Tag nach ihrer Hochzeit, so erzählt man es sich über ihre Poppi, stand sie ohne ihren Mann an der Seitenlinie im Waldstadion und schaute sich das Spiel der ersten Mannschaft ihres Heimatvereins SW Silschede an. Wenn sie verletzt ist, besorgt sie sich den Schlüssel zur Anlage und dreht Laufrunden. Eine unterschriebene Autogrammkarte von ihr klebt an der Vitrine im Vereinsheim.
Kai Krause ist am Freitagmittag am Platz. Er ist Jugendleiter von SW Silschede, einem Verein, der auf eine lange Frauenfußball-Geschichte zurückblickt. Krause hat gerade die Würstchen besorgt. Die Stadt hatte sich am Donnerstag beim Verein gemeldet und ein Public Viewing angeregt. Auf dem Vorplatz des Stadions wird nun am Sonntag eine Großleinwand aufgebaut. 500 Brötchen sind bestellt. Ob das reicht? „Die Resonanz ist bislang groß“, sagt Krause. „Alles dreht sich gerade um das Spiel.“ Fernsehteams gehen derzeit ein und aus im Klub.
Stolze Mädchen: Autogramm im Bilderrahmen an der Wand
Auf dem Platz hetzen ein paar Kinder dem Ball hinterher. Kennt ihr Alex Popp? „Ich bin der größte Fan“, ruft ein Mädchen, das in einem Gladbach-Trikot steckt, sich als Emily entpuppt und sechs Jahre alt ist. Ihr Lächeln offenbart eine Zahnlücke, wo mal Schneidezähne waren und wieder sein werden. „Ich habe ein Autogramm von ihr auf einem Zettel“, gluckst Amy, elf Jahre alt, BVB-Trikot, „der Bilderrahmen hängt in meinem Zimmer an der Wand.“ Für neue Popps und Oberdorfs scheint gesorgt.
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Der erste Bürger der Stadt wird das Public Viewing verpassen. Der Bürgermeister weilt in Portugal, spürt die Vorfreude aber trotzdem. „Selbst im Urlaub bekomme ich mit, wie sehr es die Stadt mit Stolz erfüllt, von den beiden auf Weltniveau vertreten zu werden“, sagt Claus Jacobi (SPD). Ist die Quote an Nationalspielern und -spielerinnen eigentlich Zufall? „Bürger dieser Stadt“, sagt er, „haben es in der DNA, sich gemeinsam einer Sache zu verschreiben und miteinander Ziele zu verfolgen.“