Bad Berleburg/Koblenz. Der Staatsanwalt ermittelt: Am Kadaver des im Westerwald erschossenen Wisents wurde eine alte Schussverletzung entdeckt. Wurde er illegal gejagt?
Am Ende war der Wittgensteiner Wisent im Westerwald nur noch Fell und Knochen. Als ein Jäger am 21. Juni den namenlosen Bullen aus dem Wittgensteiner Artenschutzprojekt gut 150 Kilometer von dessen Herde entfernt nahe der Stadt Selters erschoss, wog er einem Bericht des Landesuntersuchungsamts in Koblenz zufolge nur noch 297 Kilo. Ausgewachsene Männchen können laut Umweltstiftung WWF bis zu 1000 Kilo schwer werden.
Maden breiteten sich aus
An dem Körper hatten sich bereits Maden ausgebreitet. Der „aussichtslose Zustand des Tieres“, so der Westerwaldkreis, rührte von einer „vermutlich mehrere Monate zurück“ liegenden Schussverletzung am Sprunggelenk, die eine bakterielle Entzündung verursacht hatte, wie die Analyse des Kadavers ergab. Der Untersuchungsbericht liegt jetzt bei der Staatsanwaltschaft Koblenz. Sie muss prüfen, ob das Tier der streng geschützten Art illegal gejagt wurde.
Aus dem mehr als ein Jahr dauernden Ausflug des Wittgensteiner Wisents in den Westerwald ist ein Kriminalfall geworden. Darüber hinaus muss sich der Trägerverein des Artenschutzprojekts im Rothaargebirge Fragen stellen lassen.
Geschlechtsreif Herde verlassen
Der Bulle wurde in der freilaufenden Wisentherde in Wittgenstein – vielleicht auch im Sauerland – geboren. Arttypisch, so Michael Emmrich vom Wisent-Trägerverein, habe er mit der Geschlechtsreife seine Mutterherde verlassen. Experten zufolge entgehen Bullen so einem womöglich tödlichen Rangordnungsduell mit dem Leitbullen.
Emmrich zufolge hat sich der Wisent im Herbst 2020 zunächst im Kreis Olpe und im Oberbergischen Kreis aufgehalten. Bereits Monate zuvor sei er nicht mehr bei seiner Herde gesehen worden. Im Frühjahr 2021 schlug er in Rheinland-Pfalz auf. „Gemeinsam mit der vorbildlichen Willkommenskultur der rheinland-pfälzischen Umwelt-Behörden“, so Emmrich, „wurde das Zeichen gesetzt, dass sich rückkehrende Arten wie der Wisent durchaus in Deutschland selbstständig ausbreiten können.“ Ausbreiten ja, aber verbreiten? Wie sollte der Wisent Anschluss finden, wenn es dort keine anderen Exemplare seiner Rasse gibt? Wie sollte er auf Brautschau gehen? „Wir haben ja gedacht, dass er sich bei schottischen Hochlandrindern umschaut“, sagt Kurt Milad am Telefon, „diese Art ist dem Wisent noch am ähnlichsten.“ Doch nichts war: „Der hatte kein Interesse an denen“, so der Kreisjagdmeister des Westerwald-Kreises Neuwied. Milad will den einsamen Wolf, oder besser: Wisent, mehrfach gesehen haben. Zuletzt am 31. Dezember 2021. Da sei er noch munter gewesen: „Der war weder scheu noch aggressiv.“
Wisent sorgt für Schlagzeilen
Dennoch: In seinem Jahr im Westerwald hat der Wisent für Schlagzeilen gesorgt. „Er hat teilweise gravierende Schälschäden an Laubhölzern verursacht“, so Milad, auch einige Drückjagdsitze soll er auf dem Gewissen haben. Der Südwestrundfunk umschrieb einen Bericht mit: „Warum ein Wisent im Westerwald bei Jägern für Ärger sorgt“. Dass ein Jäger den Einwanderer aufs Korn nehmen könnte, wollte Milad mit Blick auf das unter Naturschutz stehende Tier ausschließen, bevor die Schussverletzung bekannt wurde: „So dumm kann kein Jäger sein.“
Das Leid in der Endphase seines Lebens hätte man dem Tier ersparen können, findet Milad: „Wir haben immer gesagt, dass man ihn narkotisieren und dann zurück zu seiner Herde oder in einen Wildpark bringen sollte.“ Nicht artgerecht, erwidert Michael Emmrich vom Wisent-Trägerverein, und es hätte „Inzucht in seiner Mutterherde provoziert“. Das in Freiheit geborene Tier in ein Gehege zu bringen, „wäre ebenfalls nicht artgerecht, dazu tierschutzrechtlich fragwürdig gewesen“.
Verfolgung aufgegeben
Emmrich zitiert Paragraf 960 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: „Erlangt ein gefangenes wildes Tier die Freiheit wieder, so wird es herrenlos, wenn nicht der Eigentümer das Tier unverzüglich verfolgt oder wenn er die Verfolgung aufgibt.“ Der Wisent-Trägerverein habe die Verfolgung des Tieres aufgegeben.
Kurt Milad liegt es fern, auf andere mit dem Finger zu zeigen. Aber: Unter Jägern werde das Engagement des Vereins diskutiert: „Es heißt: Die haben nicht intensiv versucht, ihn zu finden.“ Man habe immer die gleiche Argumentation gehört: „Das Tier ist herrenlos, man kann es nicht einfach entnehmen.“
Schadenregulierung abgelehnt
Es habe Anfragen von Landwirten und einem Jäger gegeben, die den Entschädigungfonds in Anspruch nehmen wollten, bestätigt Michael Emmrich. Eine Schadenregulierung habe man abgelehnt, da der Verein „nicht mehr Eigentümer des Tieres war“. Diese Sicht wurde auch dem Westerwaldkreis vermittelt, so dessen Pressestelle: „Der Verein teilte uns im September 2021 mit, dass er das Eigentum an dem Wisent aufgegeben habe. In Folge sei er nicht mehr für das weitere Verhalten des Wisents verantwortlich und auch nicht mehr zuständig.“
Cosima Lindemann ist als Vorsitzende des Naturschutzbundes (Nabu) in Rheinland-Pfalz alles andere als gegen Artenschutzprojekte. Aber: „Grundsätzlich ist es bei solchen Projekten wichtig, die Tiere im Blick zu haben, Interesse an deren Geschick zu haben.“ Ihr Landesverband z.B. beschäftige sich mit der Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte: „Wir kümmern uns um die Tiere, fühlen uns lange für sie verantwortlich.“
Trostloser Wisent-Lebensabend
Bleibt die Frage, wer für den trostlosen Lebensabend des Wisents im Westerwald verantwortlich ist. Da die Schussverletzung vermutlich mehrere Monate zurückliegt, so Thorsten Kahl von der Staatsanwaltschaft Koblenz, „und damit nicht nur Tatzeit, sondern auch Tatort ungewiss sind, werden sich – soweit überhaupt Ermittlungsansätze vorhanden sind – die Ermittlungen eher schwierig gestalten“.
Wisent-Bullen, so heißt es, werden selten älter als 16 Jahre. Der Wisent im Westerwald wurde nach Schätzungen des Trägervereins sechs bis sieben Jahre alt. Droht anderen ein ähnliches Schicksal? In der Vergangenheit“, sagt Michael Emmrich, seien bereits vier andere Bullen aus dem Rothaargebirge nach Hessen und Rheinland-Pfalz abgewandert. „Diese waren dann allerdings untypischerweise zurück zu ihrer Mutterherde gewandert.“