Hagen. Buchhandels-Marktführer Thalia hat einen neuen Chef. Ingo Kretzschmar übernimmt von Michael Busch. Warum tritt Busch ab?

Michael Busch (58) ist mit Thalia hoch geflogen und tief gefallen, so sah es wenigstens zeitweise aus. Auf dem Höhepunkt eines gnadenlosen Verdrängungswettbewerbs im Buchhandel erwischte die Amazon-Krise im Jahr 2010 die Branche unvorbereitet, und am härtesten stürzte der Riese Thalia.

Doch der scheidende Chef des größten deutschen Filialisten mochte sein Terrain damals nicht kampflos an das amerikanische Online-Versandhaus abgeben. Er steuerte Thalia durch eine straffe Konsolidierung und verblüffte die Buchszene damit, dass er sein Unternehmen selbst zum Player im Online-Geschäft machte. Heute ist Thalia nicht nur Vorreiter im Onlinehandel, sondern hat sein Geschäftsfeld so ausgeweitet, dass es seine digitalen Kompetenzen als Plattform immer mehr vermarktet.

Das Haus zukunftsfest aufgestellt

Jetzt sieht Michael Busch sein Haus zukunftsfest aufgestellt und tritt ab. Seinen Job übernimmt ein Hagener, der bisherige Vertriebsgeschäftsführer Ingo Kretzschmar (42). Zu unserer Redaktion sagte Kretzschmar gestern: „Durch die unterschiedlichen Stationen bei Thalia habe ich einen ganzheitlichen Überblick über das Unternehmen und die Branche gewonnen. Dies erleichtert mir den Einstieg in meine neue Rolle. Zudem bin ich Teil eines starken Geschäftsführungsteams, mit dem ich die Zukunft von Thalia erfolgreich gestalten kann.“

Das Digitale war nicht das einzige Minenfeld. Auch die Aufstellung von Thalia änderte sich in den 28 Jahren immer wieder grundlegend, in denen Busch das Unternehmen leitete. Zunächst gehörte der Zusammenschluss der Buchhandelsketten Montanus, Phönix und Thalia zum Douglas-Konzern. 2012 stieg der Finanzinvestor Advent bei Douglas ein. Diese Konstruktion mit ihren speziellen Gewinnerwartungen vertrug sich nicht gut mit einer Buchbranche im Umbruch.

Talentierter Unternehmer

Dass Advent Thalia wieder abstoßen wollte, wurde schnell klar. Doch war im Zeitalter von Amazon der Buchhandelsgigant Thalia nicht zum Weißen Elefanten geworden? Michael Busch hat in jeder Situation an Thalia geglaubt, an den Buchhandel und an seine eigene Kraft als Unternehmer. So wurde Thalia 2016 wieder familiengeführt und wechselte in die Eigentümerschaft der Verlegerfamilie Herder aus Freiburg, der Hagener Unternehmerfamilie Kreke, des Digitalunternehmers Leif Göritz und der Familie Busch, denn Busch stieg selbst als Gesellschafter ein. „Michael Busch ist einer der talentiertesten Unternehmer, die ich kenne“, würdigt Verleger Manuel Herder den Gesellschafter.

Vor allem die Tolino-Allianz hat Buchhandels-Geschichte geschrieben. Busch suchte sich Partner, um ein Lesegerät für E-Bücher zu entwickeln, das dem damaligen Marktführer Kindle von Amazon Konkurrenz machen konnte. Das galt als ungeheurer Schritt, denn es war klar, dass der Tolino nur dann eine Chance hat, wenn er technisch funktioniert, und um das zu erreichen, wurden vorab horrende Investitionen in die Technik fällig, von denen man nicht sagen konnte, ob sie sich je amortisieren würden. Selbst in seiner eigenen Branche ist Busch für die Tolino-Idee anfangs ausgelacht worden.

Amazon ist kein Schicksal

Doch der Tolino läuft, und er konnte den traditionell extrem individualisierten Buchhandel motivieren, sich zu vernetzen. Busch hat das Geschäft bei Thalia über alle Kanäle aufgebaut. „Amazon ist kein Schicksal“, betonte er auf der Jahreskonferenz von Thalia im Oktober. „Im Land der Dichter und Denker wird es nicht passieren, dass internationale Händler nationale Buchhandels-Unternehmen plattmachen.“

Trotz der intensiven Beschäftigung mit dem Digitalen hat Busch das stationäre Geschäft nicht vernachlässigt, denn in den Buchhandlungen vor Ort wird nach wie vor das Geld verdient. Und mehr noch: Buchhandlungen sind die Treiber einer erfolgreichen Innenstadtentwicklung. Durch den Onlinehandel verwahrloste Innenstädte gehören zu den großen Herausforderungen für die Zukunft. Busch hat Kampagnen zur Leseförderung gestartet, weil in Zeiten von Desinformation und Fake News immer deutlicher wird, wie wichtig die Kulturtechnik des Lesens für die Demokratie ist.

Und Busch sorgte für Schlagzeilen; etwa, wenn es um den Tarifausstieg und den Umgang mit Betriebsräten ging oder um die Corona-Schutzmaßnahmen während der Pandemie, wo Busch der Politik drohte, in den Wahlkampf einzugreifen, wenn die Buchläden nicht öffnen dürften. Künftig will er als Sprecher der Gesellschafterversammlung die Entwicklung von Thalia begleiten.

Hagener in der Führungsspitze

Mit seinem Nachfolger Ingo Kretzschmar ist erstmals ein Hagener in der Führungsspitze des Hagener Unternehmens vertreten. Der Betriebswirt hat an der Hildegardis-Schule sein Abitur gemacht, eine Ausbildung bei Douglas absolviert und nach dem Studium in Münster zunächst in Düsseldorf gearbeitet. „Dann kam der Anruf: Ingo, hast Du nicht Lust, wieder zurück nach Hagen zu kommen?“, sagte er in einem Interview mit unserer Redaktion. Während andere Führungskräfte sich mit Hagen als Wohnsitz schwer tun, fiel der Familie Kretzschmar der Wechsel an die Volme leicht. „Meine Frau ist auch Hagenerin mit familiären Wurzeln im Sauerland. Sie ist Lehrerin. Wir sind in Hagen fest verwurzelt.“

Um seine Aufgabe ist Ingo Kretzschmar nicht zu beneiden, denn auch wenn Thalia gut aufgestellt ist: Die Krise des Handels und vor allem die Krise der Innenstädte ist nicht überwunden, im Gegenteil. Unter Kretzschmars Leitung wird der Buchhändler möglicherweise noch stärker das regionale Geschäft ausbauen. Der Anfang ist bereits gemacht. So nutzen die traditionsreichen Buchhandlungen Hachmann und Dreimann in Olpe bereits die IT-Infrastruktur von Thalia.